Mittwoch, 1. Mai 2024

Picknick am Ende des Kapitalismus

Die letzten Kommunisten nutzen das verschwenderische Campingstuhlangebot des imperialistischen Stadiums des Kapitalismus, um bequem Stellung zu beziehen.

Es ist zu warm, es ist viel zu früh für den Sommer. Und doch ist er da, wiedermal überpünktlich und wie zuletzt so oft begleitet von einer Wolke aus Saharastaub. Dazu aber weht Hoffnung durch das von Zweifeln geplagte Land. Der Winter des Missvergnügens, als Bauern rebellierten, die Regierungsbemühungen um Frieden, Fortschritt und eine sichere Energieversorgung verhöhnt wurden und es zeitweise schien, als seien sämtliche Kabinettsmitglieder und Führungspersönlichkeiten der demokratischen Parteien im Wahlkampfeinsatz für die Feinde der Demokratie, er ist beendet.

Frühlingserwachen

Frühlingserwachen in der Wirtschaft, die alle Wachstumsprognosen mal eben doppelt überboten hat. Hoffnung auf ein neues Sommermärchen mit einer wie immer zumindest vorab titeltauglichen Elf. Die Angriffe auf die Aufarbeitung der Pandemie abgewehrt, die Versuche, den Atomausstieg madig zu machen, verpufft. Pünktlich zum Start in den Europa-Wahlkampf hängen Plakate überall, aber keine Schultern mehr nirgends. Deutschland bricht auf in eine vielversprechende Zukunft. Der Wähler dankt es und kehrt zurück zum Lagerfeuer der Demokraten. Die SPD liegt wieder vor der AfD, die Linke berappelt sich bei stabilen drei Prozent und alte wie neue Populisten verlieren je ein Prozent. 

Die sich lustig machten über eine Regierungsmannschaft, die sich alle Mühe gab, den Nachweis anzutreten, dass sie nicht nur keine Schnürsenkel binden, sondern auch mit Klettverschlüssen überfordert ist, sie müssen nun Abbitte leisten. Nachdem die FDP sich entschlossen hat, ihr Heil nicht in der Flucht zu suchen, steht die Koalition wie festgemauert in der Erden. 

Guter Rat vom Klassiker

Nun, rät der Dichter, "bis die Glocke sich verkühlet, lasst die strenge Arbeit ruhn, wie im Laub der Vogel spielet, mag sich jeder gütlich tun." Das klingt nach grundlosem Grundeinkommen und Work-Life-Balance, nach Arbeitstagen und hohem Mindestlohn. Laub ist zwar nicht da, jahreszeitlich bedingt. "Doch den sichern Bürger schrecket nicht die Nacht, die den Bösen grässlich wecket, denn das Auge des Gesetzes wacht." Die bundesweiten Reaktionen auf das Verlangen nach der Errichtung eines Kalifats haben es gezeigt: So nicht! Schnell werden da "Konsequenzen geprüft" (Olaf Scholz) und Sätze gesprochen, in denen "die ganze Härte des Gesetzes" (Nancy Faeser) vorkommt.

Ein frühsommerliches Picknick am Ende des Kapitalismus, die Luft ist lau, der Höllenschlund der Klimahitze noch ein uneingelöstes Versprechen. Selbst die letzten Kommunisten zieht es in die öffentlichen Parks, wo sie das verschwenderische Campingstuhlangebot des Imperialismus, jenes letzten, höchsten und zerstörerischsten Stadiums des Kapitalismus, gern nutzen, um bequem Stellung zu beziehen im Klassenkampf.

So ein schönes Ende

Hätte jemals jemand vorhergesagt, dass es so schön zu Ende geht, langsam und gemächlich, unaufgeregt und ohne dass allzu oft mit den Gefühlen der Menschen Schindluder getrieben wird, er wäre ausgelacht worden. Eine Endzeit stellten sich viele, geschult an fürchterlichen Filmen, apokalyptisch vor. Die Einschläge kommen näher. Die Regale leeren sich. Die Stimmung ist angespannt, aber denkbar schlecht. Keiner vertraut mehr niemandem. Es wird gelogen und betrogen, ausgegrenzt und manipuliert, Angst verbreitet und mit Versprechungen nicht gegeizt, so glaubten Bürgerinnen und Bürger, für die es das erste Mal ist, dass sie einem Schlussakkord lauschen dürfen.

Das hier kann es also noch nicht gewesen sein. 

1. Mai: Losungen statt Lösungen

Der 1. Mai ist für viele ein Tag, an dem Mailosungen auf die Straße getragen werden.


Es ist wieder so weit. Sogar Yasmin Fahimi, ehemals führende SPD-Politikerin und nach ihrem Wechsel auf eine parlamentarische Hinterbank schließlich zur DGB-Vorsitzenden gewählt, tauchte unverhofft, um neue Forderungen anzukündigen. Mehr für weniger!  

Mehr für weniger

Mehr Lohn, mehr Freizeit, mehr Sicherheit, das seien die zentralen Forderungen der Gewerkschaft im zweiten Jahr der Krise. Dazu gehöre ein Mindestlohn von 14 Euro, 13 Prozent rauf, das Geld ist ja da und wenn nicht, dann muss es gedruckt werden. Beinahe schon schäbig, wie die Gewerkschafterin mit den fünfstelligen Monatsgehalt die Armen abfinden will: Selbst die Grünen und die SPD sind da ganz bei ihr. Die Linke hingegen lässt sich nicht lumpen und fordert wenigstens eine Anhebung auf 15 Euro pro Stunde

Der 1. Mai als "Tag der Arbeit", das war einmal. Heute ist er frei, ein Datum mit viel Platz für  Forderungen nach einer stärkeren Work-Life-Balance, Unternehmens-Benefits und einer Vier-Tage-Woche mit vollem Lohnausgleich. Aus der Sehnsucht der werktätigen Massen nach einem eigenen arbeitsfreien Tag, den erst Adolf Hitler erfüllte, wurde ein Brückentag, den die einen für den ersten Biergartenbesuch nutzen. Die anderen aber, indem sie die von der SED in der DDR erst zu voller Blüte gebrachte Tradition der Mai-Demos pflegen. 

Kampf- und Feiertag der Werktätigen

Der "Internationalen Kampf- und Feiertag der Werktätigen für Frieden und Sozialismus", er ist nicht mehr. Aber gerade in Berlin, wo inzwischen mit 42,6 Prozent nur noch eine kleine Minderheit der arbeitsfähigen Bevölkerung einer regelmäßigen Arbeit nachgeht, wird gefeiert wie einst beim Honecker: Alle auf die Straße, rot ist der Mai! Mehr Lohn, mehr Freizeit, mehr Sicherheit! 

Mehr Namen jedenfalls hat er schon. Aus Hitlers "Feiertag der nationalen Arbeit" wurde der "Nationale Feiertag des deutschen Volkes", den die föderale Bundesrepublik dann etwa wie Nordrhein-Westfalen  als "Tag des Bekenntnisses zu Freiheit und Frieden, sozialer Gerechtigkeit, Völkerversöhnung und Menschenwürde" feiert, im einfach gestrickten Sachsen-Anhalt dagegen als "1.Mai" begeht, während Sachsen am "Tag der Arbeit" frei macht und Traditionalisten in Berlin beim "Revolutionären 1.Mai" Autos anzünden.

Scheitern mit Ansage

Der Versuch der früheren Linken-Chefin Katja Kipping, die Sache als "Tag der Gerechtigkeit" zu vereinheitlichen, musste scheitern. Zu gut ist der bisherige Markenname 1. Mai eingeführt. Doch die Tradition, mit offiziellen Losungen für mehr Gemeinsinn und Solidarität zu werben, gehört zum geistig-moralischen Erbe der Nation. Nicht mehr ein Zentralkomitee einer einzelnen Partei kümmert sich heute um dessen Erhalt, sondern eine Arbeitsgruppe aus Freiwilligen in der Berliner Bundesworthülsenfabrik (BWHF). Auch die diesjährigen Parolen bilden wieder ab, wohin die Welt sich gedreht hat. Bleibt nur zu hoffen, dass sie heute auf möglichst vielen selbstgemalten Plakaten bei den machtvollen Manifestationen der Arbeiter, Bauern und Angestellten zu sehen sein werden.

Gruß und Dank allen Werktätigen, die den Wiederaufbau der EU voranbringen! Eure großen Leistungen prägen das hohe Ansehen unserer Republik in der ganzen Welt!

Werktätige der Industrie und Landwirtschaft! Vater Staat statt Kalifat! Vorwärts zu neuen Erfolgen in der Transformation! Dem Volke zum Nutzen – der Republik zu Ehren!

Beschäftigte in den Turnaround-Unternehmen der Industrie! Seid Bahnbrecher im Kampf um wissenschaftlich-technischen Höchststand! Arbeitet, lernt und lebt nachhaltig und CO2-sparend!

Tätige der Landwirtschaft! Wetteifert um hohe Erträge und niedrigen Einsatz von Energie, Fläche und Schädlingsbekämpfungsmitteln! Weniger Fleisch und Milch und mehr einheimisches Getreide für unsere Supermärkte!

Unverbrüchliche Freundschaft mit der Ukraine, Israel und den Menschen im Gaza-Streifen! Für und gegen Waffenlieferungen, für und gegen Waffenstillstandsverhandlungen!

Solidarische Grüße dem ukrainischen Volk, das heldenhaft seine Freiheit gegen die russischen Aggressoren verteidigt!

Vorwärts zur EU-Wahl! Alles mit dem Volk – alles durch das Volk – alles für das Volk!

Frauen und Mütter! Der Green Deal dient dem Glück Eurer Familien! Legt in die Herzen Eurer Kinder die Liebe zu den gemeinsamen Werten der Union!

Dienstag, 30. April 2024

Rebellion der Rentner: Fantastische Verschwörung

Der von der mutmaßlichen Terrorgruppe Reuß geplante Umsturz atmet mehr als nur leichte Züge von Wahnsinn.
Der von der mutmaßlichen Terrorgruppe Reuß geplante Umsturz atmet mehr als nur leichte Züge von Wahnsinn.

Sie hatten sich Flinten zugelegt, Handschellen und Helme, dazu mehr als 140.000 "Waffenteile" (DPA), mit denen beim Angriff auf den Bundestag nach den Hauswachen des Sicherheitsdienstes geworfen werden sollte. Empfohlen worden war diese Strategie wohl vom Transkommunikationsteam, einem Heiler, einer Hexe und einer Kaffeesatzleserin, auf die die Prinzen Reuß seit Hunderten von Jahren schwören.

Auf die Schliche

Nicht vorhergesehen aber hatten der Rat der Weißen der Befreiungsarmee des im Thüringer Exil lebenden Reichskanzlers in spe, dass die aktuell zuständigen deutschen Behörden den Umtrieben der reichsbürgerlichen Umsturzbewegung frühzeitig auf die Schliche kommen könnten. Zwar war die Aufstandsbewegung schon so weit gewachsen, dass in einem nächsten Schritt zumindest Heimatschutzkompanie Nummer 221 von geplanten 280 hätte beginnen können, "eigenständig" (Der Spiegel) nach jungen Leuten zum Mitreisen zu suchen. 

Insgesamt aber befand sich die "Reuß-Gruppe" (Die Zeit) wohl noch in einem frühen Stadium der Machtübernahme. Auf "Basis der Ideologie der sogenannten Reichsbürger" (Tagesschau) war ein "gewaltsamer Umsturz geplant", der 73-jährige Heinrich XIII. Prinz Reuß hatte seine "terroristische Vereinigung" gegründet und seinen Sturm auf den Reichstag geplant, an dessen Sicherung durch einen breiten und tiefen Burggraben seit dem Angriff der Impfgegner mit Deutschland-Tempo gearbeitet wird. Doch wie genau es weitergehen sollte nach der Machtergreifung und den anschließenden Erschießungen gemäß einer von der Vereinigung geführten "Feindesliste", müssen die Prozesse ermitteln, deren erster nun an historischer Stätte in Stammheim begonnen hat.

Fantasten als Gefahr

Spinner oder Staatsfeinde oder beides? Das Verfahren mit dem Aktenzeichen 3 St 2 BJs 445/23, kurz "Reichsbürgerprozess" genannt, verblüfft zum Auftakt mit Superlativen. 600 Seiten Anklage, 400.000 Blatt Beweise, 270 Polizisten als Zeugen, Verhandlungen an drei Oberlandesgerichten gegen drei Verschwörergruppen mit Namen wie "militärischer Arm" und "Rädelsführer" , Verfahrensdauer ein oder zwei oder drei Jahre, genau wird man es nachher wissen. Wie auch, ob die Fantasten um den Prinzen aus dem Seitenzweig einer erloschenen Linie eines Provinzfürstengeschlechts aus Thüringen wussten, was sie tun wollten, oder ob sie sich nur gegenseitig versicherten, dass ihr Wahn Wirklichkeit sei.

Die Geschichte der Roten Armee Fraktion, die als bisher personalstärkste, mordlustigste und ideologisch gefestigste Terrorgruppe der bundesdeutschen Historie Dutzende Menschenleben opferte, um eine bessere Welt herbeizuschießen und zu bomben, belegt die Wirkungsmacht kollektiver Halluzinationen. Mag auch alles dagegensprechen, ein fester Glaube, sorgfältig in einer überschaubaren Gruppe gepflegt, ersetzt die Realität vollständig.

Falsche Assoziationen

Wer dabei unversehens an die Katholische Kirche, die Anhänger des Kalifats oder des Veganismus, die Grünen, die Linke, die FDP oder die SPD denkt, liegt vollkommen falsch. Die gewählten Mittel zum Zweck trennen legitime Versuche der Veränderung der Gesellschaft von Angriffen "krimineller Banden" (DPA): Die einen setzen auf Geduld, den langen Marsch durch die Institutionen, der zu den Hebeln der Macht führt. Die anderen wollen die Schaltzentralen stürmen, um ein blutiges Scherbengericht über die Demokratie abzuhalten. 

Das eine ist erlaubt und immer wieder erfolgreich. Das andere ist noch nie geglückt, zieht aber gesellschaftliche Außenseiter magisch an. Auch der von der mutmaßlichen Terrorgruppe Reuß geplante Aufstand atmet mehr als nur leichte Züge von Wahnsinn. 

Die blutigen Angriffe der RAF auf den gesellschaftlichen Frieden waren noch ein "Krieg von 6 gegen 60.000.000" (Heinrich Böll), den verstehen konnte, wer die Bild-Zeitung las und zum Urteil kam, dass sie "nicht mehr kryptofaschistisch, nicht mehr faschistoid" sondern "nackter Faschismus" mit "Verhetzung, Lüge, Dreck" war. Doch ein halbes Jahrhundert danach geht es nicht mehr um die Rebellion junger Leute, die sich erstmal die Hörner abstoßen müssen, sondern um einen Aufstand alter Männer und Frauen, denen die "ganze Richtung" nicht passt (Christian Daniel Schubart).

Opfer von Kleinkrimineller

Unter der Fahne von Esoterik und Aberglauben, angeführt von einem Rat aus renitenten Rentnern, die sich von einer Hofastrologin und einem "Seher" beraten und von Schweizer Kleinkriminellen um sechsstellige Summen bringen ließen, zeigt sich die mutmaßliche Terrorgruppe schon am Anfang des größten Prozesses, der in Deutschland jemals gegen die Planer eines Staatsstreiches durchgeführt wurde, als wirrer Verein von Fantasten. Drei Dutzend Leute, beseelt von "einem Konglomerat aus Verschwörungsmythen und Erzählungen der Reichsbürger sowie der QAnon-Ideologie" (Die Welt) wollten die Machtfrage stellen, bewaffnet mit "Neun-Millimeter-Pistolen" (DPA), Vorderladern und Flinten nebst "350 Hieb- und Stichwaffen" (Tagesschau), nicht zu vergessen auch "Elektroschocker, Gefechtshelme und Nachtsichtgeräte". 

Ein Staat, der solche Feinde fürchten muss, hat ganz andere Probleme.

Armin Laschet: Der Reserveheld

Armin Laschet ist wieder da - als Kanzler der Herzen
Er wollte Angela Merkel beerben, scheiterte aber an einem falschen Lachen. Nun ist Armin Laschet wieder da: Die "Zeit" rühmt ihn bereits als "Kanzler der Herzen". Zeichnung: Kümram, Aquarell

Ausgelacht, verhöhnt und abgestraft. Kleinlauf verließ CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet nach der letzten Bundestagswahl die politische Bühne. Der Hoffnungsträger für eine nächste langandauernde Kanzlerära nach Angela Merkel war zum Martin Schulz der CDU geworden. Hochgelobt. Gerühmt und vergöttert. Und dann, nach einem einzigen echten Lachen an der falschen Stelle, niedergeschrieben und niedergemacht von denselben Adressen, die zuvor vergeblich versucht hatten, ihn einem störrisch widerstrebenden Wahlvolk schmackhaft zu machen.

Der Vati nach der Mutti

Der kleine Mann, der der Vati nach der Mutti hatte sein wollen, aber in Schuhen durch die Wahlkampfmonate schlurfte, die ihm sichtlich viel zu groß waren, tauchte ab. Seine Partei stellte ihm den Stuhl vor die Tür. Weil die Kanzlerin, die ihn aufs Schild hatte heben lassen, nicht mehr greifbar war, musste er die Schuld schultern. Seinen Posten als Ministerpräsident hatte er in die Waagschale geworfen. Nun blieb ihm nichts als ein kalter Platz auf einer Hinterbank, ein Büßerposten ohne Macht, denn die hatte nun doch Friedrich Merz erobert, der ewige Endgegner der Merkelianer.

Kalter Entzug. Zwar wurde Armin Laschet schon bald nach seinem kaum betrauerten Abschied aus Politik und Öffentlichkeit mit dem Posten eines Vizepräsidenten der Parlamentarischen Versammlung des Europarates abgefunden. Doch damit war der damals erst 61-Jährige einer von 20 Stellvertretern eines Vorsitzenden namens Rik Daems, der in dem nur wenigen Europäern bekannten Organ von Vertretern aus 46 nationalen Parlamenten des europäischen Kontinents kaum für sich selbst genug Arbeit findet.

Konsequent in die Mitte

Laschet hat dann noch das Amt des Vorsitzenden des Kuratoriums der RAG-Stiftung übernommen. Und sich ins Direktorium des Aachener Karlspreises wählen lassen. Doch rehabilitiert wird der Christdemokrat, der die CDU mit einer selbstausgedachten neuen Definition von "rechts" konsequent in die Mitte hatte rücken wollen, erst jetzt, endlose zweieinhalb Jahre nachdem er die Union zum schlechtesten Wahlergebnis aller Zeiten geführt hatte. Dafür jedoch mit aller Kraft: Seit Wahlforscher der CDU ein "Merz-Problem" attestieren, weil der neue starke Mann sämtliche Wähler rechts von Grünen, SPD und Linkspartei mit seinen Zahnfee-Thesen und Abschiebefantasien verschreckt, wird der knuddelige Aachener aus dem "Abklingbecken" (RP) gehievt.  

"Lusche Laschet" (Friedrich Küppersbusch) ist jetzt der "Kanzler der Herzen" (Die Zeit), eine echte Type, nach das Medienvolk "Sehnsucht" (Tagesspiegel) hat, weil er "dem überforderten AfD-Chef Tino Chrupalla bei Maybrit Illner im ZDF" mutig das Wort "Landesverrat" entgegenschleudert und den AfD-Europaspitzenkandidaten Maximilian Krah tapfer "geißelt", weil er vor der "Wiederholung der Geschichte" (Die Glocke) warnt und sich nicht von Unschuldsvermutungen und ähnlichem Kram abhalten lässt von seiner Forderung einer "Brandmauer gegen Verräter".

Der Lichtbringer

So einen bräuchte man jetzt, an allen Fronten, an der Ostflanke, im Kabinett. Einen, der nicht nur den  Namen Armin trägt, der aus dem Hermundurischen kommt und "Lichtbringer" oder auch "Erleuchter", heißt, sondern mit der eigenhändigen Umbenennung des alten "christlichen Menschenbildes" der CDU  in ein "christdemokratisches Menschenbild"schon bewiesen hat, dass ihm entschlossenes Handeln nicht fremd ist. 

Dem derzeitigen CDU-Chef Friedrich Merz jedenfalls erwächst mit der Rückkehr Laschets ein  alter neuer ernsthafter Rivale: Laschet hat noch oder wieder viele Freunde in den Großredaktionen, viele dort wissen auch, wie viel sie ihm wegen der hämischen Hohnattacken im Wahlkampf noch schuldig sind. Wie bei den Grünen Habeck und Baerbock sich anschicken, in den Nahkampf um den begehrten Spitzenkadidatenposten zu gehen - die eine Verliererin beim letzten Mal, der Konkurrent Reserveheld - könnte es auch bei der Union kommen. 

Und selbst wenn sich Merz durchsetzt: Armin Laschet ist fünf Jahre jünger. Er kann warten.

Montag, 29. April 2024

Interaktive Hass-Muslime: Samthandschuhe für das Kalifat

Bunt und interaktiv: Was in Dresden vor Jahren noch ein "Aufmarsch von Extremisten" war, ist am anderen Ende der Elbe eine "Demo" mit Hunderten Teilnehmern.

Eine Umma, eine Einheit, eine Lösung und die heißt Kalifat. Unterwerfung unter den einen Glauben, rigorose Abkehr von demokratischen Werten, dazu klare, strenge Regeln, die das Zusammenleben in der Gesellschaft noch weitaus detaillierter regeln, als es selbst die Grundsatzdokumente der SPD vorsehen - mit der ersten offenen Islamistendemonstration hat Hamburg gezeigt, dass ein vielfältiges, diverses Deutschland nicht bei marschierenden "Pegida-Frustbürgern" (Spiegel) endet.  

Am anderen Ende der Elbe

Nein, am anderen Ende der Elbe ist es dasselbe. Auch die islamistischen Demonstranten einte eine geballte Wut auf fast alles, was anders ist. Sie waren straff organisiert und gut vorbereitet, behaupteten, dass sie in den deutschen Medien falsch dargestellt würden und empörten sich über vermeintliche "Hetzkampagnen" gegen Anhänger*innen des einzig wahren Glaubens in Deutschland, das sie als "Wertediktatur" verspotteten.

Nur die Aufregung, die sie mit dieser deutlichen Position weit außerhalb des demokratischen Spektrums erregten, zeigte, wie wenig deutsche Medien immer noch bereit sind, Menschen, die noch nicht länger hier leben oder sich schon länger nicht gut integriert fühlen, wirklich genauso ernst zu nehmen wie renitente Sachsen, Rechtsextremisten und sogenannte "Islamhasser" (Tagesschau).

Als die vor zehn Jahren als "Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes" durch Dresden marodierten, schlug das Entsetzen hohe Wogen. Das "hässliche Gesicht Deutschlands" war zu sehen, eine "Wut auf Mainstreammedien und die Politiker" (SZ) mit einer "blonden Sprecherin in der ersten Reihe" (Spiegel) erinnerte an unselige Zeiten und nur ganz kurz hielt der Versuch an, die menschenverachtenden Überzeugungen der Marschierer zu entschuldigen. Erst kamen die Anführungsstriche. Dann erging das Urteil: Hassprediger. Spalter. Hetzer. 

Handbuch des guten Demagogen

Zehn Jahre danach sind die Parolen nahezu identisch. Aus dem "Lügenpresse" von Dresden ist das "Fake News" von Hamburg geworden. Statt eines renitenten ostdeutschen "Mobs aus der Mittelschicht" (TU Dresden) voller Angst vor Überfremdung sind nun einfach nur "Hunderte bei Demo in Hamburg" geworden, die "dem Aufruf zu einer von Islamisten organisierten Kundgebung" gefolgt seien, wie die "Tagesschau" vorsichtig umschreibt. 

Wer mit der Wahrheit lügen will, mit reinen, puren, ungeschminkten Fakten Meinung machen und dabei keinesfalls erwischt werden, dem rät das "Handbuch des guten Demagogen", im äußerten Fall nicht einmal davor zurückzuscheuen, Tatsachen direkt zu erwähnen.  Nur das, heißt es im Lehrbuch, biete sichere Gewähr, sie anschließend auf eine Weise einordnen zu können, die dem Gesamtanliegen nützt, ohne Teile der Bevölkerung zu beunruhigen.

"Schwer erträglich"

Mehr als 1.000 Islamisten, die in einem nach einem christlichen Heiligen benannten Hamburger Stadtteil für die Errichtung einer religiösen Zwangsherrschaft demonstrieren, ist deshalb kein "Aufmarsch", ebenso sind die Demonstranten keine Extremisten. Unter den Samthandschuhen der Demonstrationsdeuter der "Tagesschau" verwandeln sich die Veranstalter der muslimischen Manifestation mit dem Titel "gehorche nicht den Lügnern" in vergleichsweise harmlose "Radikale" - ein Begriff, der offiziell bereits vor zehn Jahren aussortiert und durch "Extremisten" ersetzt wurde. 

Es ist also alles längst nicht so schlimm wie es schon war. Auch der Name der vom Verfassungsschutz beobachteten Truppe "Muslim interaktiv" lädt zum Lernen, Verweilen und Mitmachen ein. "Interaktiv" hat im deutschen Mediensprachgebrauch eine ähnliche Karriere absolviert wie "divers". Der Begriff, vor 40 Jahren noch ein Fremdwort, dann aber von der Bundesworthülsenfabrik (BWHF) im politischen Berlin eingedeutscht, gehört heute zum sogenannten Vielfaltsfünfklang IDBVN, der aus den Signaladjektiven interaktiv, divers, bunt, vielfältig und nachhaltig besteht. 

Friedlich, aber schwer erträglich

Die "Tagesschau" polstert die Verwendung klug mit dem Hinweis, dass die Demo ja "friedlich" geblieben sei. Die Bundesinnenminiserin schließlich ordnet das Geschehen abschließen mit dem Satz ein, dass "eine solche Islamisten-Demonstration auf unseren Straßen schwer erträglich" sei. Ein knallhartes Urteil. Einmal mehr ist die Kuh damit vom Eis, zumal Nancy Faeser für die Zukunft ein "hartes Einschreiten" des Staates "bei derlei Veranstaltungen" gefordert hat.

Wechselspiele im Politikbetrieb: Ansichten aus einer Hand

Wechselspiel auf höchster Ebene: Journalisten rücken immer wieder dankbar auf in die Korridore der Macht. Und manchmal kommen sie danach als unabhängige Berichterstatter zurück.

Alle müssen zusammenstehen, gerade in diesen Zeiten. Kein Blatt Papier darf zwischen Berichterstatter und den Gegenstand ihrer Berichterstattung passen. Jeder muss bereitstehen, wenn Not am Manne ist, auch dort einzuspringen, wo er dringender gebraucht wird. Und niemand darf sich zu schade sein, übertragene Aufgaben selbst dann zu übernehmen, wenn es bereitzustehen, wenn sein Einsatz Außenstehenden auf den ersten oder zweiten Blick ein wenig nach Günstlingswirtschaft zu schnuppern scheint.  

Ämtertausch im Hochparterre

Was muss, das muss. Wenn es draußen stürmt, bleiben die Fenster möglichst fest geschlossen. Und auch wenn es einen Augenblick lang komisch riecht und sich mancher demonstrativ die Nase zuhält. Die Geschichte hat immer wieder gezeigt, dass der längere Hebel immer den längeren Atem hat.

Es ist noch immer gut gegangen, sehr gut sogar. Warum also sollte Anna Engelke nicht Vizechefin des ARD-Hauptstadtstudios werden? Und dort gewährleisten, dass weiterhin unabhängig und unvoreingenommen über die Taten der politisch Verantwortlichen im Land berichtet wird? Nur weil die Mittfünfzigerin eben noch Sprecherin von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier war, heißt das doch nicht, dass sie nicht, dass sie nicht noch etliche Jahre beim "Wiederaufbau Europas" Ursula von der Leyen) und bei der "Erneuerung des Wohlstandes" (Robert Habeck) helfen kann.

An einem Strick

Deutschlands Neidgesellschaft aber springt sofort im Karree. Ausgerechnet Engelkes Kollegen, allesamt stets für zu leicht befunden, um wichtige Schaltstellen der noch besseren Erklärung der Regierungsmaßnahmen zu besetzen, empören sich darüber, dass ehemalige WDR- und nunmehrige NDR-Journalistin zwei Jahre nach ihrem Abschied aus dem Schloss Bellevue wieder näher an die Kammern der Macht rückt und aus nächster Nähe für Millionen Fernsehzuschauer Nutzen aus den in fünf Jahren an der Seite des früheren SPD-Politikers gewonnenen Insidererkenntnissen zieht.

Jedes Mal das gleiche Theater. Und das in beide Richtungen. Kaum hatte der als ARD-Journalist auftretende Michael Stempfle den kommenden Verteidigungsminister Boris Pistorius als einen "Vollblutpolitiker, der anpackt" gelobt, saß er schon als dessen Sprecher im Verteidigungsministerium. Länger warten musste Steffen Hebestreit, der die Geschehnisse auf der Berliner Bühne jahrelang unparteiisch kommentierte, ehe er von der damaligen SPD-Generalsekretärin Yasmin Fahimi, heute DGB-Chefin, eingestellt und später von Bundeskanzler Olaf Scholz als Regierungssprecher bestallt wurde.

Nachwuchsakademien für die Pressestellen

Bei der Taz, beim Spiegel, bei SZ, ARD und beim ZDF werden die Nachwuchsschulen der deutschen Politiksprecherei unterhalten, aus denen die größten Talente in die Champions League wechseln, wo sie sich das Rüstzeug holen, anschließend alles zu können. Manchen zieht es dann in die Diplomatie. Manchen wieder zurück zum geliebten Blatt, in den geliebten Sender. Im Weg stehen ihnen immer Divisionen von Neidern und misstrauischen Systemgegnern, die in jedem Zusammenwirken von Politik und Medien einen Versuch wittern, unliebsame Details der "uns umzingelnden Wirklichkeit" (Robert Habeck) auszublenden. 

Doch es sind zum Glück nicht diese Kreise mit ihren Vorwürfen von "unvereinbarer Regierungsnähe", die den Kurs bestimmen. Ungeeignet ist jemand nicht, weil er oder sie zeitweise direkt und unmittelbar "Teil des politischen Systems" war, "das sie oder nun kritisch beobachten soll". Dass Staat, Parteien und Medien klar voneinander getrennt sein sollten, ist eine Forderung von ähnlicher Anmaßung wie die, dass Sportreporter nicht mit Spielern, Trainern und Vereinsvorständen kumpeln dürfen. 

Kritische Geister in der Morgenlage

Nur weil jemand als unabhängiger Journalist*in so kritische Analysen, Reportagen und Kommentare geliefert hat, dass ein Minister, Bundeskanzler oder Bundespräsident sich sagt, so ein kritischer Geist soll mir in Zukunft schon in der Morgenlage widersprechen, ist er doch nicht unfähig, nach seinem Abschied aus den Behördenkorridoren immer noch so weiterzumachen, nun eben wieder auf der anderen Seite der Barrikade zwischen erster und vierter Gewalt. Das zeugt von Durchlässigkeit und davon, dass das Abrutschen in die Politik nicht für immer sein muss und ein Zurück möglich ist.

Dass der Eindruck von Regierungsnähe und Kungelei, der dabei zweifellos entsteht, die Entscheidungsfindung nicht beeinträchtigt, spricht für das reine Gewissen, das die Verantwortlichen haben: Nicht einmal der Gedanke ist ihnen gekommen, dass die Ernennung der Pressesprecherin eines Politikers zur Moderatorin des "Bericht aus Berlin" im Ersten bei Wohlmeinenden den Eindruck einer "zu großen Nähe zwischen öffentlich-rechtlichen Journalist:innen und der Politik" wecken könnte. Und bei weniger Nachsichtigen als weiterer Beleg für den engen Schulterschluss gilt, der zwischen der Macht und denen herrscht, die sie eigentlich kritisch beobachten sollen.

Ist der Ruf erst ruiniert

Hier gilt die Unschuldsvermutung, auch wenn der Verdacht naheliegt, dass der Eindruck den die Ernennung Anna Engelkes in der Öffentlichkeit erwecken musste, einfach keine Rolle spielt, weil er auf der Ebene der "Intendantinnen und Intendanten der ARD" (ARD) als unwesentlich gilt. Als "Gemeinwohlmedium", das seit dem Fall Schlesinger jede Rücksichtnahme auf den eigenen Ruf abgelegt hat, ist das Erste Deutsche Fernsehen keineswegs verpflichtet, sich um die Folgen ihrer Personalentscheidungen zu scheren. Am Ende steht Anna Engelke im Regen, ein Symptom, das für das Problem gehalten wird.

Sonntag, 28. April 2024

Fratzschers Renditerenner: Profite aus Brücken

Können Bürgerinnen und Bürger eines Tages in die Reparatur einer solchen Brücke investieren, ist ihre Rente wieder sicher.

Der Mann ist eine lebende Legende, nicht irgendein Fachmann für igrendwas, sondern der für alles. Marcel Fratzscher ist bekennender Freund der Inflation, er hat die Transformation schon durchgerechnet gehabt, als andere noch an den großen Wumms glaubten. Fratzscher, einziger deutscher Ökonom mit eigenem Verb, erklärte das deutsche Wirtschaftsmodell kurzerhand für obsolet, weil "nur eine sozialökologische Neuausrichtung die hohe Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen und die vielen guten Arbeitsplätze in Deutschland sichern" werde. Die, das las er aus dem Kaffeesatz, werde 100 Milliarden kosten, die sich aber leicht bei "Hochvermögenden" und "Superreichen" holen ließen.  

Update der Dezembervorhersage

Seit der Dezembervorhersage Fratzschers ist aber schon wieder alles teurer geworden. Und sowieso steht der Präsident des Deutschen Institutes für Wirtschaftsforschung immer lieber für eine Lösung, die mindestens zwei Fliegen mit einer Klappe erwischt. Dass steigende Preise für Heizung und Mobilität für die Bürgerinnen und Bürger gut sind, weil sie dem Klima dienen, hat Marcel Fratzscher als einer der ersten Wissenschaftler gelobt. 

Auch seine Liebe zur Geldentwertung hatte immer sachliche Gründe. Während das Bruttoinlandsprodukt zwischen 2002 und 2022 numerisch um 76 Prozent wuchs, davon aber ein Drittel sich allein der Inflation verdankten, hatte der Finanzminister mit einem Steuerplus von mehr als 100 Prozent gut gewirtschaftet. Und das nützt natürlich allen.

Denn seit 20 Jahren habe sich der deutsche Staat "kaputtgespart", wird Fratzscher nicht müde zu wiederholen. Es begann mit Schröders Sparhaushalt von 2004, der ein Volumen von 257,5 Milliarden hatte. Seitdem hat sich das Sparhaushaltsvolumen auf 445,7 Milliarden Euro nicht einmal komplett verdoppelt, und trotzdem ist nie Geld da. 

Kluge nationale Argumente

Ein neuer Vorschlag des Forschers soll das ändern, indem er die FDP-Idee einer Aktienrente klug mit nationalen Argumenten kontert. Warum solle denn privates deutsches Geld "für Investitionen in Straßen in China oder in Gaskraftwerke in Nigeria investiert werden, und nicht für Schulen, Brücken und Krankenhäuser hierzulande?", fragt Fratzscher. 

Anstelle der globalistischen Geldanlage auf der Jagd nach der attraktivsten Rendite für den gemütlichen Ruhestand empfiehlt er einen "Bürgerfonds" (BWHF): Überall dort, wo die Kommunen pleite sind und die Instandhaltung der Infrastruktur so wenig gewährleisten können wie den Neubau von Schulen, Freibädern, Parks, Straßen oder Brücken ohne die gnädige Hilfe von sogenannten "Förderprogrammen", würden Wählerinnen und Wähler selbst mit dem Rest Geld einspringen und investieren, das ihnen nach Abzug von Steuern, Abgaben und Lebenshaltungskosten noch bleibt. 

Ein ganz großer Wurf

Es wäre ein ganz großer Wurf, der das Staatsprinzip "Von der Wiege bis zur Bahre" nicht nur wörtlich nimmt, sondern raffiniert auch die Schuldenbremse löst. Fratzschers "Bürgerfonds" wäre nichts anderes als eine Art neues Sondervermögen im Schatten der Schuldenbremse: Statt Bundesanleihen zu kaufen, legt der renditehungrige Sparer sein Geld in einem Investitionsfonds an, den die staatliche Förderbank KfW aufgelegt hat. 

Von dort aus fließt das Geld, das genaugenommen nun zwar für die Bürger eine Anlage, für Vater Staat aber eine weitere Verbindlichkeit ist, in all die wichtigen öffentlichen Investitionsprojekte, deren Unterhalt die öffentliche Hand sich trotz rekordhoher Steuereinnahmen nicht mehr leisten kann. Auf seine Verschuldung müsste sich der Staat die Milliarden nicht anrechnen lassen, weil er zwar Besitzer der KfW ist. Die aber Schuldner, nicht er.

Marcel Fratzscher hat es ausgerechnet. Einerseits würden so "Brücken und Schienen, Schulen und Kitas und andere wichtige Projekte der öffentlichen Daseinsfürsorge" auf Vordermann gebracht. Andererseits würde der Fonds "auch bei der Altersvorsorge helfen". Wie genau das geschieht, hat er noch nicht ausgeführt. Es würden "die Finanzierungskosten reduziert" und "gleichzeitig die privaten Investoren an den Risiken beteiligt". 

Statt Gewinnen geringes Ausfallrisiko

Der Bürgerfonds hätte darüber hinaus "eine implizite staatliche Garantie, der das Ausfallrisiko minimiert" und die staatliche Fondsverwaltung werde natürlich dafür sorgen "dass die Gelder vor allem in solche öffentlichen Investitionsprojekte fließen, die gut gemanagt und durchdacht sind und den höchsten Ansprüchen an Effizienz gerecht werden". Fratzscher weiß, dass der Deutsche im Allgemeinen eher wenig risikogeneigt ist. Verspricht man ihm, dass zwar nichts gewinnen wird, aber auch nichts verlieren kann, ist er dabei.

Wenig anderes kann der Staat besser. Das werde es ermöglichen, das Risiko der Bürgerinnen- und Bürgeranleger "so zu gestalten, dass sie keine Verluste machen können". Zugleich werde die Rendite für Bürgerinnen und Bürger "deutlich höher als für die Spareinlage oder die Lebensversicherung", so dass sie "besser Ersparnisse für das Alter aufbauen" könnten. Wo genau dabei aber diese Gewinne herkommen sollen, die Menschen bisher veranlassen, ihr Geld in bestimmte Fonds zu stecken, sagt Marcel Fratzscher nicht. Plant er Brückenmaut? Schulgeld? Eine Infrastrukturaufbauabgabe für Kindergartenkinder?

Gestärkte Vorsorge ohne Rendite

An all diesen Details wird noch gearbeitet. Ungeachtet dessen aber steht dem Zauberkunststück nichts entgegen. Statt einer Aktienanlage, die mit einer monatlichen Sparrate von 350 Euro nach 45 Jahren um die 1,2 Millionen Euro Ausschüttung verspricht und damit einen sorgenfreien Ruhestand ermöglicht, löst Fratzschers Konzept entschlossen gleich drei andere deutsche Probleme auf einmal. Die Altersvorsorge wird "gestärkt" (Fratzscher), ohne dass den Bürgerfondsanlegern irgendeine Rendite in Aussicht gestellt ist. Der Bürgerfonds werde zudem "die soziale Akzeptanz für die notwendige wirtschaftliche und ökologische Transformation Deutschlands stärken". Und der Staat, der aus Mangel an Geld nicht investieren kann, was er müsste, investiert mehr, ohne dass er mehr investieren muss.

Multifunktionsspione: Doppelschichten im Dunkeln

Im Auftrag von Maos Erben soll sich ein in Sachsen lebender Mann das EU-Parlament ausspioniert haben.

Jan Marsalek war auch so einer. Hauptberuflich tarnte sich der gebürtige Wiener als Vorstandmitglied des digitalen Zahlungsdienstleisters Wirecard, Deutschland größtem Beitrag zum digitalen Fortschritt. Nebenher aber arbeitet der Enkel des kommunistischen Antifaschisten Hans Maršálek insgeheim am Betrug des Jahrhunderts. Ohne dass es jemand bemerkte, stahl Marsalek in den Pausen zwischen Koks, Nutten, Gesprächen mit Regierungsvertretern und Verhandlungen mit den Blutprinzen in Dubai 1,9 Milliarden Euro.  

Im Auftrag zweier Herren

Doch auch das diente nur der Tarnung. In Wirklichkeit, so viel ist heute bekannt, war der smarte Geschäftsmann nicht nur Spion im Auftrag des österreichischen Bundesamts für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT). Sondern auch  russischer Agent, der als Teil einer "nachrichtendienstlichen Zelle, deren Kapazitäten und Fähigkeiten sich russische Nachrichtendienste bedienten", selbst nach seiner Flucht nach Moskau und der Verwandlung in einen orthodoxen Priester einen Agentenring in London steuerte. 

Ohne dass es jemals jemandem auffiel, spähte Marsalek über seine "eigenen Netzwerke dem Kreml missliebige Personen in Europa" aus und womöglich übermittelte er sogar "sensible Informationen nach Russland", wie die "Tagesschau" eine Latte an Untaten zusammenfasst, die neben gewerbsmäßigem Bandenbetrug, den besonders schweren Fall der Untreue, Bilanzfälschung, Börsenmanipulation und weiterer Vermögens- und Wirtschaftsdelikten auch noch geheimdienstliche Agententätigkeit und Landesverrat enthält.

In einer eigenen Liga

Marsaleks Tage hatten 48 Stunden, sein Ego füllte sie alle. Der heute 44-jährige Österreicher spielte in seiner eigenen Liga, ein doppelter Doppelagent, gegen den James Bond wie ein langweiligen Bürokrat wirkt. Doch der flüchtige Spion, zuletzt auffällig, als er einen von Moskau aus  Kuriere mit Bargeld von Berlin nach Wien schickte, "um dort einen Laptop mit brisantem Inhalt abzuholen und nach Russland zu transportieren" (Tagesschau), ist offenbar kein Einzelfall. 

Auch Jian Guo, der mutmaßliche China-Spion im Büro des AfD-Spitzenkandidaten, war ähnlich viel beschäftigt. Zusätzlich zu seiner beruflichen Tätigkeit im Abgeordnetenbüro gab er "im Auftrag chinesischer Geheimdienste" (T-Online), als mehrerer, nicht nur "geheime Informationen aus dem EU-Parlament weiter", sondern er bespitzelte nebenher auch noch chinesische Dissidenten im Exil. Weil ihm daneben noch allerlei Tagesfreizeit blieb, bot sich Guo dem Bundesamt für Verfassungsschutz als Informant an. 

Jian strebt nach mehr

Weil das an seiner Mitarbeit kein Interesse zeigt, entschloss er sich nach Informationen des SPD-nahen Redaktionsnetzwerkes Deutschland (RND), dann eben Informant des sächsischen Landesamtes für Verfassungsschutz (LfV) zu werden. Der Dresdner lieferte den sächsischen Behörden Hinweise auf "mutmaßliche Aktivitäten des chinesischen Nachrichtendienstes", blieb aber, so betont die Behörde schadensmindernd, freischaffend, also ohne den begehrten Status des "Mitarbeiters", den Marsalek als Diener vieler Herren genoss.

Ein Lebenslauf, der wie Marasaleks von einem Engagement kündet, das weit über das hinausgeht, was gewöhnliche Menschen in ihre Tage pressen können. Pendelnd zwischen Aschheim bei München, Berlin, Wien, Moskau, Dubai, ChinaAustralia, Hong Kong, Indonesia, Malaysia, Philippines und Thailand spitzelte und betrog, der eine, hin- und herreisend zwischen Dresden, Brüssel und Berlin und Peking drehte der andere das große Rad, indem er "gesperrte" "und sensible", aber keine "vertraulichen" Unterlagen des Europa-Parlaments einsah. 

Wurzelprofiling versagt

Obwohl der "gebürtige Chinese" (RND) allein schon wegen seiner Herkunft und seinem sächsischen Wohnsitz hätte besonders im Auge behalten werden müssen - eine AfD-Mitarbeiterin mit chinesischen Wurzeln war früh unter Drachenverdacht geraten - gelang es ihm augenscheinlich, sich in eine Position zu bringen, die es ihm erlaubte, sich frei zwischen den Geheimdiensten und seinen unterschiedlichen Aufgaben zu bewegen.

Erst ein glücklicher Zufall gerade noch rechtzeitig vor dem Start der heißen Phase des EU-Wahlkampfes ließ die Allianz zwischen dem früheren CDU-Mann Krah, dem mutmaßlichen Doppelagenten und den russischen Hintermännern auffliegen, die versucht hatten, ihre in einem "Manifest" niedergeschriebenen Pläne, "die Umfragewerte der AfD zu steigern und bei Wahlen auf allen Ebenen eine Mehrheit zu erreichen", umzusetzen. 

Sechs Jahre Einflusskampagne

Die "chinesische Einflusskampagne" (T-Online) hatte da bereits sechs Jahre angedauert, es war Peking mehrfach sogar gelungen, deutsche und europäische Spitzenpolitiker nach China zu locken, die dort allerdings überwiegend Fragen des fairen Wettbewerbs ansprachen, das Problem der Gewährung grundlegender Menschenrechte aber nur in vorsichtigen Nebensätzen erwähnten.

Der Versuch, die Integrität der EU-Wahl zu beschädigen, ist der ehrgeizigen Supermacht im Fernen Osten jedenfalls fürs Erste missglückt. Da auch das russische Vorhaben, nicht wie bisher über Verbindungen in die SPD und das Unterstützermilieu in der Linkspartei und bei der Wagenknecht-Bewegung für die Sache des Kreml zu trommeln, durch die Enttarnung der Päckchenübergabe an Krahs Kollegen Bystron und die Festnahme zweier Deutschrussen mit Sabotageplänen gescheitert ist, ist die Sicherheit vorerst wiederhergestellt.

Samstag, 27. April 2024

Zitate zur Zeit: Super

Wir sind super durch Krise gekommen.

Robert Habeck, Klima- und Umweltminister

Wahlrecht erst ab 25: Reform wegen Rechtsruck

Verstörende Umfrageergebnisse unter Jüngeren zeigen beim Wahlrecht dringenden Veränderungsbedarf.

Wissenschaftler forderten es schon lange, weil Studien kein Risikopotential zeigten. Forscherfinnen bestätigten das: Je jünger Wählerinnen und Wähler seien, desto progressiver stimmten sie an der Wahlurne ab. Zudem bilde sich bei einer früheren Einbeziehung in die Entscheidung über gesellschaftliche Weichenstellung hin zu mehr Klimaschutz, zu kürzeren Arbeitszeiten und höheren Steuern und Abgaben eine festere Bindung zur Demokratie.  

Umdenken wegen Unzuverlässigkeit

Bei der oft als "Europawahl" bezeichneten Wahl zum EU-Parlament dürfen zumindest in Deutschland nun erstmals auch Minderjährige wählen, die noch nicht geschäftsfähig sind. Eine Geste, mit der Jugendliche ab 16 Jahren ein Inklusionsangebot gemacht wird. Zwar müssen sie die Disco weiterhin um Mitternacht verlassen und sich Getränke mit höherem Alkoholgehalt von Älteren kaufen lassen. Doch da eine Ausübung des Wahlrechts durch 16-Jährige keine wirklich wichtigen Entscheidungen betrifft, hatte der Gesetzgeber beschlossen, auch womöglich noch nicht reifen Nachwachsenden mit einer experimentellen Absenkung des Mindestwahlalters auf 16 Jahre die Gelegenheit zu geben, ihre Stimme abzugeben. 

Zumindest bei der nach den Regeln des "Demokratiedefizits der EU" (Bundeszentrale für politische Bildung) ohnehin nur eingeschränkt demokratischen EU-Wahl. Das ist wegen der gemeinsamen europäischen Lösungen zur gleichen, freien und geheimen Wahl in immerhin in elf der 27 EU-Staaten möglich.

Vertrauensvorschuss missbraucht

Ein Vertrauensvorschuss, den viele Jugendliche aber offenbar nicht zu schätzen wissen. Aktuelle Umfragen zeigen einen "Rechtsruck" (Taz), der Erreichtes aufs Spiel setzt: Statt sich der Ehre der früheren Einbeziehung ins demokratische Spiel würdig zu erweisen, enttäuscht ein großer Teil der Befragten der Studie "Jugend in Deutschland 2024" mit rechtspopulistischen Positionen und der offenen Ankündigung, bei nächster Gelegenheit demonstrativ die Falschen wählen zu wollen.

Es ist ein Verfall der politischen Überzeugungen, der gerade nach den von öffentlich vielbeachteten Teilen der Jugend getragenen Protesten gegen das Klima und die Potsdamer Remigrationspläne überraschend kommt. 22 Prozent der 14- bis 29-Jährigen würden demnach AfD wählen, wenn sie jetzt könnten, das sind mehr als doppelt so viele wie noch vor zwei Jahren, als nur neun Prozent auf die populistischen Parolen von rechts hereingefallen waren. Die Stimmen für die AfD kommen dabei auch aus einer vollkommen unerwarteten Richtung: Was die in Teilen als nachgewiesen verfassungsfeindlich beobachtete Partei gewann, haben vor allem die Grünen als ehemals beliebteste Partei junger Menschen abgeben müssen. 

Kein Verlass auf Jüngere

Bis ins Alter von 29 Jahren zeigt die Umfrage, dass kein Verlass mehr auf Winston Churchills Lehre ist, dass jeder, der mit 20 Jahren kein Kommunist sei, kein Herz habe, 40-jährige Kommunisten aber keinen Verstand besäßen. Augenscheinlich wegen wachsender Unzufriedenheit, der als bedrohliche empfundenen wirtschaftliche Lage, der Inflation, wegen hoher Mieten, der sich beständig verschärfenden Frontlage in der Ukraine und in Nahost wenden sich Nachwachsende denen zu, die die Zukunft bedrohen. Offenkundig sind sie eben doch noch nicht reif genug, um zu wählen. Kaum erfasst die junge Generation eine "tiefsitzende mentale Verunsicherung", obwohl Kanzler und Vizekanzler längst das Ende der Turnaround-Jahre ausgerufen haben, wenden sie sich von der Demokratie ab.

Selbst die Regel, dass bei den meisten politischen Wahlen in Deutschland nur mitentscheiden, wer 18 Jahre alt ist, steht nun infrage. Ist das gerecht? 18-Jährige werden vom Gesetzgeber in Strafrechtssachen einer Sondergerichtsbarkeit unterworfen, die bis zum Alter von 21 Jahren gilt, aber auch Älteren offensteht. Bis zum Alter von 25 Jahren sind Eltern einerseits unterhaltspflichtig, andererseits berechtigt, für ihre "Kinder" das staatliche Kindergeld in Anspruch zu nehmen. Auch hier gilt, dass das 25. Lebensjahr keine feste Brandmauer bildet, weil der Zeitpunkt der vollen Geschäftsfähigkeit jeweils individuell festgelegt werden muss.

Wenig gefestigte Überzeugungen

Angesichts der jüngsten Entwicklungen, die zeigen, wie wenig gefestigt die progressive und fortschrittliche Überzeugung bei einem viel zu großer Teil der Jüngere ist, steht nun nicht mehr nur die weitere Absenkung des Wahlalters zur Diskussion. Auch werden verschärfte Erziehungsmaßnahmen kaum reichen. Stattdessen schiebt sich eine Debatte um eine notwendige Erhöhung des Wahlalters auf die Tagesordnung: Wenn unter 30-Jährige dazu tendieren, rechte Parteien wie CDU, CSU und AfD zu wählen, zeigt das deutlich, dass sie noch nicht genug Wissen, Reife und Erfahrungen haben, um fundierte Entscheidungen zu treffen.

Dass eine Teilnahme an Wahlen zu mehr politischem Interesse und Partizipation führen könnte, wäre damit viel zu teuer erkauft. Schließlich geht es hier mit Blick auf die Bundestagswahl nicht nur um ein paar Stimmen, sondern um mehr als zwölf Millionen Wahlberechtigte, die mit über die Zusammensetzung des Parlaments bestimmen würden.

Um das zu verhindern, sind jetzt vor allem FDP, Grüne, SPD und Linke gefragt, die durch den Rechtsruck am deutlichsten verloren haben. Die Ampel-Regierung müsste das Mindestwahlalter für die kommende Bundestagswahl auf 25 oder besser noch 29 Jahre festlegen. Dazu wäre allerdings eine Grundgesetzänderung notwendig, für die eine Zwei-Drittel-Mehrheit erforderlich ist. Doch könnte sich die Union der Bitte aller anderen demokratischen Parteien verschließen, hier eine Brandmauer hochzuziehen? Sicherlich nicht, denn CDU und CSU wollen bestimmt nicht von Wahlentscheidungen profitieren, die Menschen treffen, die nicht wissen, was sie tun.

Freitag, 26. April 2024

Attraktives Deutschland: Der Weltmagnet

Kaputtgeredet und schlechtgemacht. Dabei ist Deutschland direkt hinter dem vom Brexit schwer gebeutelten Großbritannien auf Platz 5 der beliebtesten "Arbeitsländer" (ZDF)

Es ist teuer, die Steuern sind hoch, die Infrastruktur ist kaputt. Die Bevölkerung steht der Regierung mehrheitlich ablehnend gegenüber, selbst die Mitte ist gespalten, zudem geht ein Riss quer durch Land und teilt den beigetretenen Osten vom alten Westen der früheren Bundesrepublik. Es mangelt an ausreichend Wohnraum, an Medikamenten, an der Bereitschaft, auf E-Autos umzusteigen und die Heizungen zu erneuern. Draußen auf dem Land hingegen marodieren Nazibanden durch weitgehend entleerte national befreite Zonen, die schon im Herbst endgültig an die Feinde der Demokratie fallen könnten.

Verwandlung zur Schönheit

Drei Landtagswahlen stehen an. Dreimal ist die in Teilen nachgewiesen rechtsextremistische AfD in Umfragen stärkste oder zweitstärkste Kraft, während die Verteidiger der Zivilgesellschaft darum kämpfen, wenigstens so viele Wählerinnen und Wähler zum Kreuzchen an der richtigen Stelle zu bewegen, dass es für eine symbolische Repräsentanz in den Landtagen reicht. Eine gefährliche Zutat mehr nur zum giftigen Cocktail, der die gefragten Fachkräfte aus aller Welt schon lange davon abhält, den Deutschen aus ihrer durch den kräftigen Zustrom der letzten zehn Jahre kaum gedämpften demografischen Katastrophe zu helfen. 

Der Strompreis auf Weltrekordniveau. Mobilität ohne Privatauto schwer zu realisieren. Der Nationalismus allgegenwärtig. Die Wirtschaft im Niedergang. Hintendran bei nahezu allen technischen Entwicklungen der Neuzeit. Unterdigitalisiert. Dafür überreguliert, erstickt von einer allgegenwärtigen Bürokratie. Und viele gesellschaftliche Errungenschaften werden von "vielen" (Georg Restle) kaum mehr geschätzt, weil der Menschenschlag, der schon länger hier lebt, immer noch glaubt, er habe andere Probleme als Pronomen, Gendersprache und critical whiteness

Neidische Gegner

Große Adressen und neidische Gegner haben Deutschland kleingeredet. Das sei "nicht attraktiv genug", quengelte die "Tagesschau", der Staatssender Deutsche Welle schlug in dieselbe Kerbe und tat sich gütlich daran, dass viele, die trotzdem kämen, schnell wieder weg seien. Der WDR und die "Zeit", das Handelsblatt und sogar der "Spiegel", überall war das Urteil vernichtend: Für die beschworenen ausländischen Fachkräfte ist Deutschland kein begehrtes Ziel. "Bloß nicht Deutschland"  (Spiegel) sagten die, die gebraucht würden, den Karen aus dem Dreck zu ziehen und das Land wieder aufzubauen  wie damals nach dem Zweiten Weltkrieg.

Die gingen, so glaubten viele bisher, stattdessen lieber nach Norwegen, Dänemark, in die Schweiz, nach Schweden oder in die Niederlande, dazu natürlich in die traditionellen Einwanderertraumziele USA, Australien und Kanada. Überall sind die Einkommen höher, die Steuern niedriger, die Strompreise ebenso. Das Maß an persönlicher Freiheit ist größer, die öffentlichen Debatten werden zumindest in Skandinavien mit weniger Schaum vor dem Mund geführt und nach Jahren leidenschaftlicher Kämpfe an Brandmauern haben sich viele erbitterte Feinde angesichts einer übermächtig scheinenden Wirklichkeit ringsum zu Regierungen zusammengerauft.

Traumziel Deutschland

Doch dem Standort Deutschland als Traumziel schadet das offenbar überhaupt nicht. Wie das ZDF jetzt durch das Springer-Vermittlungsportal Stepstone hat herausfindenlassen können, gehört Deutschland mittlerweile sogar zu den "Top 5 der attraktivsten Arbeitsländer". Zwar liegt das seit dem Brexit "auf dem letzten Loch pfeifende" Großbritannien (Tagesschau) laut der Studie: "Decoding Global Talent" noch einen Platz vorn. Doch auch wenn die ARD mit Rücksicht auf den Tenor der früheren Berichterstattung zurückhaltend davon spricht, dass  "Deutschland attraktiv für ausländische Arbeitnehmer" sei, lässt sich kaum bestreiten, wie viel bereits erreicht ist. 

Kaum einer will mehr fort, Deutschland, in der Stepstone-Hitliste vor fünf Jahren noch auf Platz zwei geführt, liegt nun aussichtsreich ganz vorn hinter der Spitze und "und ist damit das erste nicht-englischsprachige Land hinter Australien, den USA, Kanada und Großbritannien", wie die "Tagesschau" lobt. 2020, bei der letzten Untersuchung, war dieses erste deutschsprachige Land in der Liste auf Platz von Platz 2 auf Platz 4 abgerutscht, jetzt ist es eben Platz 5. Verglichen mit Berlin, das laut Studie nur die sechst-attraktivste Stadt der Welt ist, ist das fünf deutsche Verhältnisse immer noch sehr gut.


Attacken auf den Atomausstieg: Kanzlerkandidat im Visier

Robert Habeck wusste von nichts, aber heute darf man im dankbar sein: Das atomgläubige Frankreich stöhnt unter explodierenden Strompreisen, in Deutschland wird alles immer billiger.

Oft ist es peinlich, wenn der Chef nicht weiß, was seine Mitarbeiter treiben. Manchmal führt das sogar dazu, dass Menschen das Vertrauen verlieren und am Format der Führungsfigur zweifeln. Diesmal aber hat Robert Habeck Glück: Er selbst ist es, den seine ehemals engsten Mitarbeiter ebenso hinters Licht geführt haben wie seine Ministerinnenkollegin Steffi Lemke. 

Wie die vom Magazin "Cicero" im Stil der RKI-Files mit klarer Zielrichtung der Verwendung als Munition für Regierungskritik freigeklagten Atomakten aus dem Bundesumweltwirtschaftsministerium zeigen, verbargen hochrangige Vertreter der zweiten Ebene in den beiden von den Grünen geführten Ministerien in den Tagen der finalen Entscheidung über den deutschen Atomausstieg wichtige Fakten und Tatsachen vor ihrem Minister und ihrer Ministerin. 

Robert Habeck als Hauptverantwortlicher sah sich später gezwungen, die Dokumente, die den Verdacht erhärten, "dass Deutschlands endgültiger Ausstieg aus der Atomkraft weniger auf den Einschätzungen von Fachleuten beruht, sondern das Produkt radikaler grüner Ideologen ist", aus Gründen der Staatsräson zurückzuhalten. Eine Offenlegung drohte Zweifel auszulösen, Verunsicherung zu schüren und das Handeln der Bundesregierung als getrieben von Wünsche und Illusionen zu diskreditieren.

Wieder keine Staatsaffäre

Was klingt wie eine Staatsaffäre, ist aber gerade deshalb gerade keine. Robert Habeck wusste von nichts, konnte den Gang der Dinge also auch nicht unzulässig oder aus ideologischen Gründen beeinflussen. Nicht zuletzt hierin dürfte der Grund dafür liegen, dass weder ARD noch ZDF das allenfalls lokal oder womöglich regional bedeutsame Ereignis zu einem Skandal aufbauschten, den mehrere privatkapitalistische Medienheuschrecken erkannt zu haben glaubten. 

Die ARD konzentriert sich richtigerweise auf die 50-prozentige Erhöhung der deutschen Wachstumsprognose. Das ZDF stellt Habecks bedeutsamen neuen Kanal beim spionageverdächtigen chinesischen Webportal TikTok vor. Die abendliche "Tagesschau" fiel diesmal besonders kurz aus: Nach 20 Minuten Schnellgericht im Bundestag wegen der AfD-Chinaspione, einem Stück zu einer Frauenhaus-Initiative der geschrumpften Linksgruppe (Original), einer fünfminüten Feierstunde für den neuen Bundeswehr-Veteranentag und die unumgängliche Rückkehr der Wehrpflicht war auch schon Zeit für das Wetter.

Sachlich betrachtet gibt es für demonstrative Aufregung aber auch keinen Grund. Patrick Graichen, der auch hinter dem Heizungsgesetz und dem Beschluss zum Rückbau der deutschen Gasnetze steckende Strippenzieher im Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK), ist bereits vor einem Jahr wegen "eines Fehlers zu viel" (Habeck) in den einstweiligen Ruhestand versetzt worden. Auch von anderen Beteiligten an den Atomabsprachen per Mail, die darauf zielten, Zweifel an Sinn und Durchführbarkeit des Atomausstieges gar nicht erst aufkommen zu lassen, ist seitdem kaum etwas zu hören oder zu sehen gewesen. Niemand kennt diese Leute. Niemand hat je von ihnen gehört.

Habeck wusste nichts

Fakt ist: Robert Habeck wusste von nichts, er ahnte nicht, was vorging, er wurde von Leuten getäuscht, denen er vertraute. Dass der beliebte Grüne, dessen Buch "Die Flut - Tod am Deich" gerade als packender Thriller Furore in der ARD macht, trotzdem im Zentrum der Kritik steht, dürfte weniger mit seiner Rolle bei der Entscheidungsfindung über die Zukunft der Kernkraft weltweit zu tun haben als mit den in den vergangenen Tagen auf vielerlei Kanälen unumwunden angemeldeten Ansprüchen auf die kommende grüne Kanzlerkandidatur. 

Das gefällt vor allem den Rechten, Rechtsradikalen und Rechtsextremisten nicht, die ihre Felle davonschwimmen sehen und deshalb jetzt mit der durchsichtigen Kampagne gegen den kommenden Kanzlerkandidaten: Habeck soll entweder etwas gewusst haben und deshalb verantwortlich sein. Oder er habe nichts gewusst, also seinen Laden nicht im Griff gehabt. Gehen müsse er in beiden Fällen, so heißt es einmal mehr.

Routinierte Schubumkehr

Freilich sind die Grünen derartige Angriffe gewohnt. Fast schon routiniert lassen sie die Attacken ins Leere laufen. Habeck sei selbst "von seinen eigenen Leuten getäuscht" worden, ob Habeck oder Umweltministerin Steffi Lemke die Empfehlung von Fachleuten, die Laufzeit der Atomkraftwerke zu verlängern, jemals erhalten hätten, sei offen und auch bereits vom Ministerium dementiert worden

Länger schon steht ohnehin fest, dass alles supergut ausgegangen ist. Mag da auch getrickst worden sein, mögen Bürgerinnen und Bürger, ja, selbst hellwache Medienarbeiter und Koalitionspartner mit gefälschten Fakten und frei erfundenen Fachgutachten hinter die Fichte geführt worden sein. Es war zu ihrer aller Bestem. Und letztlich ein Wagnis mit großem Erfolg: Während der Strompreis zuletzt in Frankreich, das wider besseren Wissen und trotz aller Warnungen aus Berlin an der Atomkraft festhält, auf durchschnittlich 23 Cent pro Kilowattstunde explodiert ist, profitieren deutsche Stromkunden weiterhin von einem günstigen Durchschnittspreis von 41 Cent.

Wohl kaum ein Grund, dem dafür verantwortlichen Minister, der zudem lange vergeblich für einen Industriestrompreis gekämpft hat, um klimaschädliche Schwerindustrie im Land zu halten, gleich einen Rücktritt nahezulegen.

So lange Habeck keine pfiffigen Einkaufswagenchips auf Ministerschreibpapier bewirbt, ist alles in Ordnung.

Donnerstag, 25. April 2024

#allesdichtmachen: Der ungeheuerliche Aufstand der Mimen

 

Die Gemeinschaft hatte sie gepäppelt, ihnen Arbeit und Brot gegeben, Preise geschenkt und sie mit Orden behängt. Im Fernsehen war immer ein Platz für ihre Auftritte, die großen Magazine und Tageszeitungen hielten ihnen Spalten frei, wenn sie über ihre neuen großen Werke sprechen wollte. Ja, sie waren die Kulturschaffenden des ganzen Volkes, Frauen, Männer und Binäre aus der Bevölkerung, denen ein besonderes Talent zur Selbstdarstellung eignet. Sie tragen ihre Gefühle auf der Zunge, sie sagen ganze Drehbücher auswendig auf. Sie wissen nach Fernreisen zu exotischen Stätten des Untergangs vom Klima zu berichten. Und sie sitzen in Talkshows, um die letzten Fragen von "Krieg und Frieden" (Lew Tolstoi) zu beantworten.

Aufstand ohne Erlaubnis

Und dann dies, aus einmal. Wie aus heiterem Himmel hatte sich eine ganze Handvoll der besten Künstlerinnen und Künstler miteinander verschworen, um Zweifel zu wecken. Zweifel an der Pandemiestrategie der Regierung. Zweifel an den notwendigen Maßnahmen. Zweifel am Sinn, Zweifel am Zweck. Zweifel an der Richtigkeit. Am Lockdown. An den Heilsversprechen der Virologen. Am Gebet aus den Regierungsbüros, dass Deutschland besser als alle anderen, mindestens.  

#allesdichtmachen #niewiederaufmachen#lockdownfürimmer, solche bewusst provokanten Hashtags nutzten die Initiatoren der von keiner Regierungsinstitution genehmigten Protestkundgebung "Alles dicht machen" vor drei Jahren, um "zynisch Kritik an der deutschen Corona-Politik und den Medien" (Focus) zu üben. Die "verfassungsschutzrelevatne Delegitimierung des Staates" war noch nicht erfunden, wurde es aber in jenen Apriltagen des Jahres 2021, als eine Bande eigentlich als verlässlich geltender öffentlicher Gesichter unverhofft aus der Rolle fiel. 

Angebliche Alternativen

Ist vielleicht doch nicht alles so hervorragend gewesen? Sind die Maßnahmen überzogen, zu spät, womöglich falsch? Gäbe es unter Umständen sogar Alternativen zum Dauerlockdown? Mit Jan Josef Liefers, der in der Vergangenheit schon gelegentlich als Querkopf aufgefallen war, Ulrich Tukur, Volker Bruch, Meret Becker, Ulrike Folkerts, Richy Müller, Heike Makatsch und anderen ist beinahe das gesamte Fernsehballett aufmarschiert, um Bedenken anzumelden. 

Der Sänger und Tatort-Kommissar Liefers etwa meinte bemerkt haben zu müssen, dass Medien über Monate berichtet hätten wie Regierungsorgane. Ulrich Tukur versuchte, die Regierungsmaßnahmen sarkastisch infrage zu stellen. "Schließen Sie ausnahmslos jede menschliche Wirkungsstätte und jeden Handelsplatz", forderte er, "nicht nur Theater, Cafés, Schulen, Fabriken, Buchhandlungen, Knopfläden nein, auch alle Lebensmittelläden, Wochenmärkte und vor allem auch all die Supermärkte."

Um Vergebung bitten

zynisch Kritik an der deutschen Corona-Politik und den Medien übe

Zum Glück zeigte sich in der auf diese unsympathische Art angestoßenen Diskussion schnell, wer wessen Geistes Kind war. "Kein Satireliebhaber hat etwas gegen kritische Sketche, sie gehören zu Kultur und Alltag dieser uralten Kunstform", hieß es bei ganz normalen Menschen draußen auf der Straße. Doch hier handelte es sich zweifelsfrei um eine "Verhöhnung der Corona-Toten!" wie das SPD-eigene Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) streng urteilte. Ja, wer hier mitmachte, der war "nicht mehr ganz dicht" (Die Zeit) und musste "zurückrudern" (Tagesspiegel). Buße tun. Sich zu seinem Irrtum bekennen. Und hoffen, dass ihm die Gesellschaft noch einmal vergibt.

Es ist jetzt, 1.000 Tage und eine ganze Aufarbeitungsdiskussion an einem Mittwochvormittag später, kaum noch zu begreifen, die Opfer der Pandemie den wildgewordenen Kunst- und Kulturschaffenden alles durchgehen ließen. Ja, natürlich, die Medien gingen streng mit ihnen ins Gericht. Als eine "Katastrophe für die Solidargemeinschaft" und "Unverschämtheit" brandmarkten ihre Mutigsten den Aufstand der Mimen. Applaus bekam, wer Reue zeigte

Eine namhafte Jury aus Staatskunstschaffenden wie Igor Levit, Jan Böhmermann, Christian Ulmen und Nora Tschirner verteilte Schulnoten: Wer heult gut mit den immer schrilleren Sirenen der Weltuntergangspropheten? Wer bockt und widerspricht? Igor Levit, ein später mit dem Bundesverdienstkreuz geehrter Medienklaviaturspieler, fand die passenden Bezichtigungen: Alles nur "schlechter, bornierter Schrumpfsarkasmus, der letztendlich bloß fader Zynismus ist, der niemandem hilft, nur spaltet".

Hilfreiches Versagen

Doch oh, felix germania! Letztlich war #allesdichtmachen auf diese Weise doch hilfreich. In einer schweren Zeit, in der alle an einem Strang hätten ziehen müssen, trennte sich hier die Spreu vom Weizen. Teilnehmer der Aktion, die stets gut gelebt im geschützten Biotop der Gemeinsinnsender, zeigten ihr wahres Gesicht. Nicht allen war es ein Bedürfnis, sich für jahrelange Gunst und sicheres Einkommen erkenntlich zu zeigen. Lieber schielten sie auf den Applaus deren, die für Unruhe sorgen wollten. Ja, das machte die "bizarre Kampagne gegen Medien und Bundesregierung" deutlich, bis zur Herstellung einer unteilbaren Einheitlichkeit aller Meinungen war noch ein Ende zu gehen.

Heute ist die Gesellschaft auf diesem Weg ein ganzes Stückchen weiter, die Frage nach der politischen Zuverlässigkeit von Beteiligten an allem, sie steht permanent und sie wird unterbrechungsfrei beantwortet. Niemand muss mehr absichtlich aus der Reihe treten, um seinen Unwillen zu demonstrieren, weil die zuständigen Organe bei entsprechenden Hinweisen heute schon lange vor dem Übertreten der Strafbarkeitsgrenze wegen einer Gefährderansprache proaktiv auf ihn zukommen.

Neue Satirerichtlinien, unmittelbar nach der Attacke von Allesdichtmachen beschlossen, verhindern humoresk getarnte Übergriffe. Hohn schließlich, zuletzt immer wieder missbraucht, um staatsfeindliche Kritik zu verbrämen, ist erst jüngst mit dem 12. Maßnahmepaket für die Bedrohung der Demokratie als feindliche Waffe unter Beobachtung gestellt worden.