Montag, 7. April 2025

Der Provokateur: Unaussprechliches Grauen

Der Provokateur: Unaussprechliches Grauen
Dieter Hallervorden ist seit Jahren als unzuverlässiger Provokateur bekannt.

Er lehnt das Gender ab, er macht schon sein Leben lang Witze über Minderheiten, er hat sich lange zur FDP bekannt und nach Anfängen als Schauspieler gelang ihm eine einzigartige Karriere als Komödiant. Dieter Hallervorden war zwar bereits 1958 in den Westen geflüchtet, weil ihm die bürgerlichen Freiheitsgrade in der DDR nicht ausreichten. Doch im Herzen blieb der in Dessau geborene Sohn eines Flugzeugingenieurs immer Ostdeutscher. Ihn zur Feier des 75. Geburtstages des Gemeinsinnfunks in Deutschland einzuladen, war ein unabsehbares Risiko. Und Hallervorden, mit 89 Jahren aller Sorgen um seine weitere Laufbahn ledig, lieferte wie bestellt.  

Bekannter Provokateur

Als hätte es nicht genug Warnungen gegeben, fiel der Schauspieler, Theatergründer und Sänger zehn Jahre nach seinem "Heim ins Reich"-Ausfall  erneut mit einem Verstoß gegen die Bundessatirerichtlinie auf. In der "75 Jahre ARD"-Jubiläumsshow sollte er eigentlich nur einen fast 50 Jahre alten Sketch aus seiner einstigen Fernsehreihe "Nonstop Nonsens" wiederaufführen - Hallervorden aber nutzte die Gelegenheit gezielt, um den alten Sketch um die Flasche voller Pommes und das sinnfreie Wort "Palim, Palim" zu einer Provokation für Millionen Fernsehzuschauer zu machen.

Hallervorden hatte den eigentlich ohnehin humorfreien Spaß umgeschrieben und im Gegensatz zur Berichterstattung, in der die Rede davon ist, dass er "das N-Wort und das Z-Wort" (n-tv) benutzt habe, sprach Dieter Hallervorden in Wirklichkeit von "Neger" und "Zigeunerschnitzel". Ein Tabubruch, knapp vorbei am Versuch von Friedrich Merz, Deutschlands Grenzen mit Hilfe der AfD zu schließen. Seit einem bindenden Beschluss der Bundessprachkammer gelten das "N-Wort", ausgeschrieben und -gesprochen eine früher in Deutschland gebräuchliche Bezeichnung für Schwarze, die seit 2012 als rassistisch gilt, als auch das "Z-Wort", das Eltern und Großeltern noch anstelle von
Sinti und Roma verwendeten, als unaussprechlich.

Unaussprechliches Grauen

Eine Einladung für Hallervorden, der schon verschiedentlich als ein Mann auffällig wurde, dem gesamtgesellschaftliche Vereinbarungen über Sagbares wenig bedeuten. Die regelmäßig auftauchenden Produkte einer Code-Industrie, die auf die gesellschaftsverändernde Kraft setzt, die sich zeigt, wo der Mensch erzogen wird, bestimmte Gedanken nicht mehr auf eine bestimmte Art mit seiner Umwelt zu teilen, lehnt der Comedy-Greis ab. Mit der Verwendung von "Negerkuss" und "Zigeunerschnitzel" in einem Land, das mit sich selbst vereinbart hat, diese Begriffe aus dem Sprachgebrauch verschwinden zu lassen, legt er sogar nahe, dass seine Witzfigur im Sketch wegen ihrer Verwendung im Gefängnis gelandet ist.

Eine ungeheuerliche Unterstellung, denn außer einer gesellschaftlichen Ächtung geschieht N- und Z-Nutzern in den meisten Fällen überhaupt nichts.  Dennoch griff die ARD nicht ein - obwohl der Hallervorden-Auftritt vorproduziert war und jede Möglichkeit bestand, den Inhalt zu schneiden, die provokativen Passagen zu überpiepsen oder wenigstens mit einer Triggerwarnung anzukündigen, unterblieben alle Versuche der Einordnung der Äußerungen als unbedachte Ausbrüche eines alten Mannes. 

So viele Worte

Bezeichnend: Hallervorden hätte auch das "M-Wort", das "S-Wort", das "R-Wort" oder das "P-Wort" verwenden können. Er hätte auch damit die zulässigen Grenzen der zwischenmenschlichen Kommunikation überschritten und den gesellschaftlichen Zusammenhalt nachhaltig zerstören können. Dennoch zog er es vor, N- und Z-Wort zu benutzen - wohl im Wissen, dass das R-Wort nach wie vor im Grundgesetz steht, das M-Wort weiterhin Straßenschilder und Apothekenfassaden ziert und das "S-Fahren" bisher nur in der Hauptstadt Berlin verboten wurde, anderswo aber bestraft wird.

Der Kabarettist weiß genau, was er tut und er weigert sich sogar im Nachhinein, seinen Ausfall zu entschuldigen. Stattdessen verlegt sich Dieter Hallervorden auf die bekannte Entschuldigung, dass Satire "alles"  dürfe -  dabei trifft das nur zu, so lange über "Zickenficker" gelacht werden soll, Polizisten in  Müllbeuteln landen und ganzen Staaten der baldige Volkstod gewünscht wird. Tatsachen, die dem alten Spaßmacher Hallervorden, die er aber ignoriert, um öffentliche Aufmerksamkeit zu generieren. 

Ein Manöver, das aufgegangen ist. Hallervordens Abweichung vom grundgesetzkonformen Humor überstrahlt die Feiern zum Geburtstag des Gemeinsinnfunks. Und wirft ein düsteres Licht auf eine Gesellschaft, die sich außerstande zeigt, ihre eigenen Tabus wehrhaft zu verteidigen.


Mediale Demenz: Akute Aufregungswelle

Fast auf den Tag genau hat diese junge Klimakleberin den Termin des Weltuntergangs schon am 28. März 2022 vorhergesagt. 1100 Tage nach ihrer Warnung läutete allerdings Donald Trump mit seiner Zoll-Orgie das Ende ein, nicht die Klimahitze.

Was ist da auf einmal los? Alles wie mit einem Zaubertusch fortgewischt, was in den letzten drei Monaten die Debatte bestimmte. Weg sind die Schicksalsfragen, an denen sich alles entscheiden würde. Corona. Die Impfpflicht. Die schweren Waffen. Taurus. Die Sanktionen. Der Wiederaufbau nach der Pandemie. Die Erderhitzung und schließlich die Brandmauer, hinter der sich die demokratischen Mitte versteckte, um unsere Demokratie gegen den rechten Rand zu verteidigen.  

All das war wichtig, jedes zu seiner Zeit. Doch aktuelle Google-Daten zeigen, dass alle diese Aufregungswellen spurlos über Deutschland spülten. Nichts ist geblieben, nicht einmal ein kleiner Rest.

Nie länger als sechs Tage

Natürlich hatte seit Menschengedenken schon niemand mehr die Absicht, ein bestimmtes Thema länger als fünf, sechs Tage oder allerhöchstens zwei Wochen auswalzen und auszuweiden. Nach dem ersten Grundgesetz der Mediendynamik passt die Welt in keinen Schuhkarton, unweigerlich aber in 15 Minuten "Tagesschau". 

Das zweite hingegen besagt, dass Großereignisse nie gleichzeitig stattfinden, sondern immer fein säuberlich hintereinander, als plane eine große göttliche Regie den Ablauf von Kriegen, Krisen, Flugzeugabstürzen, Prominentenhochzeiten und Sportevents. Eine klassische Aufregungsaufwallung endet erst, wenn eine neue parat steht. Auch die größte aber findet ihr natürliches Ende, wenn frische Ware eintrifft, mit feuchtem Blut und warmen Opfern.

Bis dahin muss alles von allen erzählt und mehrfach aus jedem Blickwinkel ausgeleuchtet worden sein - und das ist es in der Regel auch. Wenn keinem mehr eine Ergänzung einfällt, kommt rein zufällig ein neues Großthema daher. 

Trumps Sauereienzucht

Mal ist es ein Schnupfen, mal ist es das feindliche Verhalten eines Partnerstaates, mal bricht ein Krieg aus, mal eine Regierung zusammen. Manchmal reicht es, dass sich Deutschland nicht verantworten will für etwas, das so lange zurückliegt, dass die Weltbilderklärer in den "Tagesthemen" weit ausholen müssen. Zuletzt reicht oft auch der Blick nach Amerika, wo der alte neue Präsident Donald Trump eine Sauereienzucht betreibt, die jeden Tag für neuen Grusel gut ist.

Hauptsache, keine Woche vergeht ohne akute Aufregungswelle. It's only entertainment, but I like it, sangen die Rolling Stones vor 50 Jahren, ohne geht es nicht. Die Gesellschaft braucht Elend, Entsetzen und Empörung und sie ist nicht wählerisch bei der Auswahl, was sie gerade auf die Palme bringt. Manchmal reicht es als neuer Anlass, dass ein paar Schnösel auf Sylt singen. Manchmal ist es ein Hauskredit des Bundespräsidenten, eine live abgängige Fernsehmoderatorin oder ein gefallener Fake-News-Fürst beim Faktenmagazin. In anderen, weniger dürren Zeiten, müssen Landesbanken im Dutzend fallen, Staaten und ganze Kontinente gerettet werden. Oder es kommt gleich Krieg.

Der gefährlichere Feind

Dann wenden sich frühere Verbündete ab, frühere Partner fahren Panzer auf, die härtesten Sanktionen werden in Stellung gebracht und die Führerinnen und Führer der Republik erklären die beiden Präsidenten unterschiedslos von Rivalen zu Gegnern. Wobei Donald Trump der gefährlichere Feind ist: Er hat zuerst die Demokratie komplett abgeschafft, dann scheiterte er dabei, einen Frieden in der Ukraine ohne Zustimmung Europas herbeizupressen. Und nun erhebt er auch noch Zölle.
 
Das Ende der Welt hatten viele sich anders vorgestellt. Aber dass es nun die Finanzbehörden sind, die den letzten Nagel in den Sarg der westlichen Fortschrittsgesellschaften schlagen, ist ein eigentlich ein erwartbares Finale. Wenigstens hat Trump alle anderen Diskussionen beendet. Keine Spur mehr vom Heizungsgesetz in den Trendlinien, keine Pandemie, keine Brandmauer, kein Tabubruch. Sobald neuer Stoff für ein gerüttelt' Maß an Aufregung sorgt, ist alles vergessen, was gerade noch war. 

So viele schöne Themen

All die vielen schönen Themen, die eben noch das Schicksal der Welt zu bestimmen auserkoren waren, treten durch den Hinterausgang ab. Staatspleiten und Staatsversagen, das D-Day-Papier und der Bündniskanzler, RKI-Leaks, Pistorius auf der Auswechselbank und der sichere Wahlsieg Kamala Harris - im Medienwind verweht wie Saharastaub, jenes Naturphänomen, das erst vor 15 Jahren entdeckt wurde. Seitdem aber alle Löcher füllt, die der Blutmond im Sendeplan übriglässt.

Gerade war die Klimabewegung noch jung, hübsch und mächtig. Keine Talkshow ohne Adidasmädchen, das die welt erklärte. Bis sie auf einen Schlag verschwunden waren, die Mädchen und die "Bewegungen". Gerade noch Bundestagswahlkampf, der Mann mit der Zuversicht gegen den mit den Hakenkreuzaugen gegen den mit der Aktentasche. Die Frage, ob der eine eingeladen werden muss, wenn der andere auch keine besseren Chancen hat, wurde tagelang gewälzt. Im Kurzzeitgedächtnis von Mediennutzern ist die Türkei unbedingt noch präsent. Die Protestdemonstrationen ließen nicht nach. Bis sie fort waren. 

Tore zur Hölle

Dass die deutsche Sozialdemokratie Friedrich Merz neulich noch dabei erwischt hatte, wie er die "Tore zur Hölle" aufriss, ist kaum mehr vorstellbar, seit die Besten von SPD und Union die Köpfe zusammenstecken, um eines Tages zu "liefern" (Saskia Esken). Was, weiß noch niemand. An wen, darüber verhandelt der mehrhundertköpfige Kreis aus Christ- und Sozialdemokraten und Christsozialen auch noch.

Es wird auch dank medialer Demenz eine gesichtswarende Koalition herauskommen, die alle Chancen hat, vielleicht länger zu halten als die letzte, wenn ihr nicht auch das Geld zu früh ausgeht. Passiert es doch, müssen die Grünen beim nächsten Mal auch noch mitmachen. Die Bereitschaft ist da, das wurde klar als sich die Parteispitze bereiterklärte, gegen Zahlung von 100 Milliarden Klimageld über die Hakenkreuze in Merzens Pupillen hinwegzusehen. 

Hieß er Obama bin Laden

Dass Friedrich Merz an der Brandmauer gerüttelt hat, im Grundgesetz festgeschrieben in einem der wenigen Artikel mit Ewigkeitsgarantie, ist vergessen, wie es die Ausgangssperren sind, das Bobby Car, der Vogelschiss, Pegida, Obamas bizarrer Vorwurf, Angela Merkel habe die Grenze geöffnet, oder der Tag, an dem Geert Wilders sein islamfeindliches Machwerk "Fitna" veröffentlichte. Auf den die muslimische Welt später mit Protesten in Kopenhagen, Paris und vielen, vielen anderen Städten reagierte. IS? Was war das? Hieß er wirklich Obama bin Laden? Bis wann genau war Deutschland das reichste Land der Welt?

Friedrich Merz und Lars Klingbeil stehen für tabula rasa, einen Neuanfang unter alten Vorzeichen. Seine Wahlversprechen, so ehrlich ist Merz, hat er selbst kassiert. Sein Tabubruch im Bundestag hat ihm leid getan. Über genommen hat es ihm aber nicht einmal das alte Hohe Haus. Die Finanzierung steht, sie sucht derzeit nur noch eine passende Regierung. 

Verfügbares Aufregungspotenzial

Nur ältere Leute ohne Snapchat, Tiktok und Netflix erinnern sich noch an Zeiten, als das bisschen verfügbares Aufregungspotenzial sparsam bewirtschaftet werden musste. Über Wochen lieferten Landesbank Stoff, die sich verspekuliert hatten. Ein auf persönliches Geheiß der Kanzlerin ausgewechselter Ministerpräsident in Thüringen warf die Frage nach dem Funktionieren der Demokratie auf. Heute iss mediale Demenz die Grundlage für personelle Kontinuität und Erneuerung zugleich. 
 
Stand im vergangenen Jahr noch die Frage unbeantwortet im Raum, ob Nancy Faeser und Olaf Scholz noch einmal damit davonkommen würden, Verbalgeschütze in Stellung gebracht zu haben, um die akute Aufregung über Messergewalt und Autoanschläge niederzukartätschen, ist die Antwort inzwischen eingetroffen. Ja, Faeser, die sich um politische Prinzipien dreht wie eine Gebetsmühle im tibetischen Gebirgswind, hat sich im Vertrauen auf die Vergesslichkeit des Volkes selbst zur Erfinderin von Grenzkontrollen und Zurückweisungen ausgerufen. Ihr sei es zu verdanken, dass die Zustromzahlen zurückgingen, hat sie als jüngst verkündet, den Bundeskanzler, der es auch gewesen sein will, direkt düpierend. 

Krude Thesen über Migration

Aber nichts hat natürlich mit nichts zu tun und wo es keinen Zusammenhang gibt, ist der Erfolg nur umso höher einzuschätzen. Unvorstellbar heute, dass der Bundesbanker Thilo Sarrazin vor 15 Jahren mit "kruden Thesen über Migration" (Der Spiegel) über Wochen alleiniges Gesprächsthema war. Bis zur Coronapandemie kam nie wieder ein anderes Thema an diesen Bedeutungspeak heran, nicht Heizungsgesetz, nicht Gasmangellage und Wirtschaftsrezession, nicht der Geheimplan für Deutschland, nicht Fridays for future, nicht Thomas de Maizieres "Blutbad im Reichstag" und nicht der Reichstagssturm, nicht einmal der Ukrainekrieg.
 
Dann kam Trump und warf seine Zollbombe auf die westlichen Verbündeten. Erstaunlich: Schon am 28. März 2022 hat eine junge Klimakleberin (Foto oben) den Termin des Weltuntergangs fast auf den Tag genau vorhergesagt. 1.100 Tage nach ihrer Warnung war es so weit.

Sonntag, 6. April 2025

Fehlendes AfD-Verbot: Schatten über dem SchuKo-Paradies

Alle Warnungen haben nicht gefruchtet: Statt geduldig auf die Wohltaten der schwarz-roten Koalition zu warten, entziehen die Bürger der SchuKo jetzt schon das Vertrauen.

Der Chef ist abgetaucht. Kein Zeichen von Friedrich Merz, nirgendwo. Zu den jüngsten Turbulenzen an den Weltfinanzmärkten hat sich der kommende Bundeskanzler ebenso wenig geäußert wie zur weiteren Suspendierung der Arbeit des Bundestages. Der CDU-Chef schweigt schon seit Wochen. Das Volk hat bisher nur erfahren, dass alles anders werden wird, anders vor allem, als Merz selbst er versprochen hatte. Zu Einzelheiten bisher nur so viel: Lasst Euch überraschen!

Zu große Ungeduld

Die Ungeduld aber ist groß. Wie hoch werden die Steuern steigen? Wie offen bliebt die Grenze? Welche neuen Lasten werden CDU, CSU und SPD der Wirtschaft überhelfen? Worauf werden sie sich einigen, um die hart arbeitende Mitte stärker an der Last zu beteiligten, die es bedeutet, schlagartig ein Drittel mehr Zinsen zahlen zu müssen? Und worüber schließlich darf sich unsere Demokratie freuen? Wird sie gestärkt? Oder wird die neue Koalition der Versuchung nicht widerstehen können, die populistischen 551 Fragen zu den Pfeilern der demokratischen Grundordnung zu beantworten? Bleibt es bei der Abschaffung allzu lästiger Informationspflichten? Oder werden Staatsfeinde künftig generell mit einem Entzug staatsbürgerlicher Rechte abgeschreckt?

Noch verhandeln sie, schneller als gedacht, aber länger als geplant. Hinter verschlossenen Türen wuchern die Gerüchte. Sorgsam darauf bedacht, selbst gut dazustehen, streuen die Verhandler Details darüber, was sie alles schon haben durchsetzen können gegen die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler. Mit 16 Prozent der Stimmen, so werten es Beobachter, wird es die SPD wohl schaffen, lupenreine Ampel-Politik fortzusetzen. Und die Union ist drauf und dran, auf den letzten Metern ihrer langen Existenz als Volkspartei noch einmal zurückzukehren in die erfolgreiche Zeit unter Angela Merkel. Wir schaffen das. Jetzt sind sie halt da. Deutsche Grenzen lassen sich nun mal nicht schließen. Wer es doch tut? Dann ist das nicht mehr mein Land.

Pokerspiele im Hinterzimmer 

Im Land drumherum um die Hinterzimmer, in denen sie um die Brieftaschen, Sparguthaben und Zukunftsaussichten von Millionen pokern, ist es verdächtig still. Kaum etwas dringt nach außen, allenfalls einige renitente Basisorganisationen der Union sind vor der Zeit auf dem Baum, bemüht, durch rechtzeitigen Protest das womöglich Schlimmste zu verhüten. Demonstrativ sind sie auf dem Baum, die konservativen Kräfte, die sich vom Friedrich Merz eine Rückkehr zu Kohl und Adenauer hatten versprechen lassen - und auf einmal wieder mit Merkel, Altmaier, Braun und Spahn aufwacht. Alles anderen warten wie gebannt darauf, Einzelheiten über ihr Schicksal, das ihrer Familien, Freunde, Firmen und Vermögen zu erfahren.

Keine Demonstrationen, kaum Petitionen und schon gar keine erfolgreichen. Die Medien hatten die gebrochenen Wahlversprechen nach 24 Stunden vom Tisch geräumt. Die Lage der Dinge nach dem Rauswurf Wolodymyr Selenskyjs aus dem Weißen Haus war eben, mit dieser These hatte Friedrich Merz alle Kritiker schnell überzeugen können, kaum mehr mit der zuvor vergleichbar.

Eine unumstößliche Regel

Wer in dieser Situation versucht, die "Ergebnisse der Koalitionsverhandlungen schon vor ihrem Ergebnis zu verdammen", klagt der Welt-Reporter Robin Alexander, verstoße gegen eine unumstößliche Regel: "Beurteile eine Regierung nach 100 Tagen im Amt, und dann soll die Beurteilung noch vorsichtig ausfallen. Jetzt sind wir schon vor dem Amt." Alexander nennt die Sehnsucht so vieler, fünf Monate nach dem Zusammenbruch der Ampel-Koalition langsam mal wissen zu wollen, wie es und ob es überhaupt weitergeht, "Sofortismus“.

Die Zeit läuft anders ab in den Redaktionsstuben. Gestern ist gleich, morgen braucht Geduld. Doch das ehemalige Bürgertum, über Jahrzehnte der Geschichte der Republik bereit, willig jede Wendung mitzumachen, so lange ihm Besserung versprochen wurde, habe sich eine „kulturelle Aufladung gegen links und Mitte links" verpassen lassen. "Ein Teil des Bürgertums möchte nicht mehr aus der Mitte regiert werden, kann es nicht mehr ertragen, dass die CDU mit der SPD verhandelt. Und wenn sie mit den Grünen verhandeln würden, wäre es noch viel schlimmer." 

Woher nur dieses Misstrauen

Was sind das nur für Reflexe? Woher kommt das Misstrauen? Woher die fehlende Zuversicht? Niemand versteht es, gerade mit Blick auf zurückliegenden drei Jahre. Es gibt keine rationale Erklärung außer der, dass dieses Bürgertum "in dieser Richtung täglich angespitzt wird von einer Publizistik, die sich aus der Mitte verabschiedet hat, die alles runterschreiben, alles unter Verratsverdacht stellen". Hat Friedrich Merz mit den im Handumdrehen aus dem alten Bundestag gezauberten Sondervermögen nicht gezeigt, dass er ein Mann ist, der zu seinem Wort steht? Nur manchmal hier und manchmal dort?

Nicht die Tatsachen spielen eine Rolle, sondern ihre boshafte Deutung, glaubt Robin Alexander. Die Verschwörungstheorie dahinter: Ergebnis dieser mächtigen Hetzkampagne gegen die kommende Koalition sind Umfragewerte, die die CDU in der Beliebtheit bei den Bürgern noch schneller abrutschen sehen als Weltbörsen, die Robert Habeck doch gerade zu neuen Höhenflügen motiviert hatte. 

Verlorene Mehrheit

Die Koalition der Enttäuschten, deren mühsam ausgehandelte Kompromissformeln die besten Aussichten haben, schon am Tag der Unterzeichnung des Koalitionsvertrages unzureichend und überholt zu sein, hätte in ihrer Zusammenstellung keine Chance auf eine Mehrheit, wenn heute noch einmal gewählt würde. 

Bis zu diesem Punkt hatte Angela Merkel 16 und die Vorgängerregierung immer noch zweieinhalb Jahre gebraucht. Merz ist noch nicht einmal im Amt und er hat es schon geschafft. Wichtig ist das nicht. Gemeinsam mit den Grünen bekäme er immer noch eine kräftige Koalition zusammen. Und nach allem, was Union, SPD und die Grünen gemeinsam beim Rettungsschuldenpaket erreicht haben, wäre das inhaltlich kaum problematisch.

Die seit Ende Februar unablässig steigenden AfD-Werte sind trotzdem ein Problem. Gerade noch musste die CDU die in Teilen als gesichert rechtsextrem aktenkundige Partei an sich vorbeiziehen lassen. Nur vier Tage später helfen auch die Stimmen der CSU nicht mehr, die Brandmauerpartei zu distanzieren. Erstmals schaffen es CDU und CSU nur noch gemeinsam auf Augenhöhe mit der größten Oppositionspartei. Mit 24 Prozent liegen beide erstmals gleichauf.

Mitte und Rand auf Augenhöhe

Seit Friedrich Merz seine Kanzlerkandidatur antrat, hat seine Partei acht Prozent ihrer Wählerstimmen verloren. Die AfD legte in derselben Zeit um sechs Prozent zu. Besser hat die Partei, die Friedrich Merz bei seinem Dienstantritt als CDU-Chef noch hatte halbieren wollen, noch nie abgeschnitten. Setzt sich diese Entwicklung fort, steht die AfD im Frühherbst bei mehr als 50 Prozent. Friedrich Merz mit seiner Union und Lars Klingbeil mit der SPD hätten dann immer noch die Wahlen gewonnen. Das Land aber verloren. 

Es braucht nun einen großen Wurf als Koalitionsvertrag, um den Trend zu drehen. Die SchuKo muss liefern und alle Erwartungen bedienen, denn weniger wird nicht reichen. Nur mit Helikoptergeld, sinkenden Steuern, höheren Strafen für Reiche, sicheren Grenzen und einer umfassenden Willkommenskultur, knallharten Zurückweisungen und erweiterten Programmen zur Familienzusammenführung, dem Ausbau des Schuldenstaates, des Schutzes der Meinungsfreiheit durch strengere Regeln und einem baldigen entschlossenen AfD-Verbot kann verlorengegangenes Vertrauen wiederhergestellt werden.  

Globalisierungskritik: Widerstand mit drei Streifen

Jette Nietzard zeigt die sich "Stern" stolz in Nike-Sneakern und Adidashose, der traditionellen Ausgehuniform der abenteuerlustigen Bürgertöchter.

Sie sehen aus wie ihre eigenen Mütter, ausgestattet aus dem Altkleidersack, die Nikes aus Bangladesch stylish abgetragen, die Jogginghose aus indonesischer Produktion noch kaum ausgeblichen und in scharfen Kontrast zum Leopardenfellmuster, das den Oberkörper schmückt und andeutet, dass hier jemand sitzt und geht, der sich seiner kolonialen Vergangenheit genau erinnert. Jette Nietzard, seit einem halben Jahr neue Co-Vorsitzende der Grünen Jugend, hat sie bewältigt und sie kann sich deshalb; heute stolz ein Stück Afrika aneignen.

Keine Frau für Kompromisse

In der Illustrierten "Stern" hat die 25-jährige Nachwuchsfunktionärin sich jetzt als "keine Frau für Kompromisse" vorgestellt. Eine "freie Radikale", deren politische Erfolge überschaubar sind. Bei zwei Wahlen ist die studierte Kapitalismuskritikerin bisher angetreten. Einmal holte sie elf, einmal knapp neun Prozent der Stimmen. Das reichte, um ihren Anspruch auf die Führung des grünen Jugendverbandes zu untermauern. 

Nach dem Abgang der vorigen Führung haben Nietzard und in Chefkollege Jakob Blasel die jungen Grünen wieder auf Linie gebracht. Katharina Stolla und Svenja Appuhn und deren Vorgänger Sarah-Lee Heinrich und Timon Dzienus, die einen verschwunden in die Unsichtbarkeit der Gründungsvorbereitungen für eine neue, richtig sozialistische Partei, der andere dank eines guten Listenplatzes in Niedersachsen inzwischen Bundestagsabgeordneter, pflegen die Neuen den alten Stil. Je schräger die Ideen und je kruder die Thesen, desto größer die öffentliche Beachtung und je lauter der Applaus aus der eigenen Fankurve. 

Arbeit als Sexualtherapeutin

Blasel, Mitgründer von "Fridays for Future", aber rechtzeitig vor dem Zusammenbruch der Klimabewegung abgesprungen, hat sich als Kleintierkritiker einen Namen gemacht. Nietzard war zuletzt als Sexualtherapeutin unterwegs. Sie beklagte, dass Frauen bei Männern 30 Prozent weniger zum Orgasmus kommen" und sie forderte, dass Männern "Privilegien genommen werden" müssten, solange sie nicht in der Lage seien, einen "Mehrwert für Gesellschaft und Beziehungen" zu produzieren. 

Ihre Missachtung für "unsere Demokratie" demonstrierte die Expertin für die "Wechselwirkung von Ökonomisierung und Professionalisierung in der frühkindlichen Bildung aus einer kapitalismuskritischen Perspektive" zuletzt durch einen Auftritt im "Schlabberlook" (Focus) im Bundestag, den sie über das chinesische Spionageportal Tiktok verbreitete. Eine neue "Era" (Nietzard) des Feminismus, der Weiblichkeit hinter einer Oma-Brille, strähnigem Haar und graugewaschenen Pullovern versteckt

Die Last der Verantwortung

Die bedrückende Botschaft dahinter fasziniert die Medien der Klickökonomie wie ein Autobahnunfall. Diese graue, von der Last der Verantwortung, die die Älteren tragen, früh niedergedrückt, glaubt an "verbotene Strophen" der Nationalhymne, daran, dass die Grünen dem "Sondervermögen "zur Sicherung der kommenden SchuKo-Jahre nicht zustimmen werden, und an die unwiderstehliche Magie von Punkte-Plänen.

Darüber hinaus aber auch an die ungebrochene Kraft der großen Medienadressen, Menschen zu erreichen, die auf die richtige Botschaft warten. Nach dem Vorbild von Carla Reemtsma und Luisa Neubauer hat jetzt auch die Sprecherin der grünen Jugend sich teuer beleuchtet als role model für die neue Generation der Klima-Feministinnen ablichten lassen. Nietzard, ungeschminkt stets deutlich älter wirkend als es ihr Geburtsjahr vermuten lassen würde, zeigt sich cool und lässig und betont ängstlich beim Gedanken, "ob sie noch alles im Griff hat, was sie da auslöst" (Stern). 

Die Mehrheitsgesellschaft provozieren

Diese ständigen Versuche, die Mehrheitsgesellschaft zu provozieren. Die gezielten Spitzen gegen Andersdenkende, von denen sie trotz ihrer Vorliebe für ausgefallene Kleidungsstücke "in der Bahn nach ihrer Nummer gefragt" wird.

"Vielleicht ist es so, dass ich am Ende zur Spaltung der Gesellschaft beitrage", sagt sie und folgt damit der alten Strategie aller Populisten, regelmäßig selbst Sorge darüber zu äußern, was wohl passieren würde, erfüllten sich die eigenen Träume. Jette Nietzards größter wäre, dass der Kapitalismus stirbt, damit das Klima leben kann. Wenn die große Fotostrecke im "Stern" dazu beiträgt, dann soll es so sein.

Das Magazin, 1948 von einem früheren Kriegsberichterstatter in der Propagandakompanie der SS-Standarte Kurt Eggers nach dem vom NSDAP-Mitglied Kurt Zentner 1938 konzipierten Glanz- und Glamourblatt "Der Stern" gegründet, steht für geschmackvolle Unterhaltung, hier ist noch Platz für große Bilder und das "bisschen mehr knallen" (Nietzard), nach dem sich gerade viele junge Menschen in diesen Vorkriegszeiten so sehnen.

Hof halten im Bundestag

Nietzard ist "auf einer halbrunden, gepolsterten Bank auf der Fraktionsebene des Bundestags", wo sie für Lisa Becke vom Hauptstadtbüro Hof hält, Jona im Bauch des Wals, allerdings nicht auf Transportleistung erpicht, sondern unterwegs, um das Riesentier von innen aufzufressen. Wiese Nietzard das hohe Haus gewählt hat, um sich zu offenbaren, wird nicht erklärt. Nietzard beauskunftet strategisch. Jetzt ist Schluss mit dem hyperpragmatischen Realo-Kurs. Jetzt sagt sie, dass "es keine Milliardäre geben sollte". Jetzt wird von einer Welt erzählt, "in der es keine Polizei mehr braucht". Jetzt steht die Unschuldsvermutung auf dem Prüfstand.

Dass man sich dem System ganz hingeben muss, um es erfolgreich zu bekämpfen, ist ein Preis, den auch linke Politiker gern zahlen, wenn er dem eigenen Fortkommen dient. Die Familie daheim ist stolz. Die Weggefährten schauen ein wenig neidisch, aber auch bewundernd. Der politische Gegner ist düpiert. Und irgendwann hat man es geschafft: Mit sitzt auf dem Talkshow-Karussell. Man wird erkannt und angegriffen. Und kann aus allem, was einem entgegnet wird, neues Material für die Verteidigung der eigenen Positionen gewinnen.

Eine "freie Radikale"

Die "freie Radikale" ist Rebell und sie macht sich für die globalisierten Monstermarken stark. Ihr Auftritt ist fantastisch ausgeleuchteter Widerstand und er hilft ehrenamtlich mit, die internationalen Großkonzerne zu finanzieren, deren weltweites Befeuern von sportlichen Großveranstaltungen zum Klimawandel mehr beiträgt als der komplette Individualverkehr Deutschland. Wie Greta Thunberg, Reemtsma und Neubauer ist sich Nietzard keiner Schuld bewusst. Es ist nur eine Hose. Es sind nur ein paar Schuhe. Es ist nur ein T-Shirt. Und es hat Tradition. 

Schon der kubanische Revolutionsführer Fidel Castro, ein brutaler Diktator, der zehntausende Menschen für die gute Sache opferte und Hunderttausende aus ihrer Heimat vertrieb, bekannte sich zur Mode aus Herzogenaurach. Ihm eiferten die G20-Protestler von Hamburg nach und später die Widerständler von Lützerath. Immer schon trug die Klimabewegung am liebsten Adidas, die Antiglobalisierungsproteste fanden in Kostümen statt, die vom globalisierten deutschen Sportmodekonzern geliefert wurden. 

Erinnerungen an die Panzerfrau

Ob die berühmte Panzerfrau mit der roten Hose 2017  seinerzeit  für ihren Auftritt in Adidas-Sneakern bezahlt worden war, konnte nie nachgewiesen werden. Doch der Hersteller aus der Nähe von Nürnberg war in der Vergangenheit häufig in finstere Geschäfte mit fragwürdigen Funktionären verstrickt, dass ausgerechnet Globalisierungskritiker, Freunde der sozialistischen Produktionsweise und Gegner der marktwirtschaftlichen Ordnung sich für seine fast fashion begeistern, erscheint rätselhaft. Aber es ist so - Adidas ist, wie Jette Nietzard zeigt, die Ausgehuniform der abenteuerlustigen Bürgertöchter. 

Drei Streifen sind Pflicht, darunter machen sie es nicht.

Samstag, 5. April 2025

Zitate zur Zeit: Kommando Chlorhuhn

Vor zehn Jahren musste gerechter Welthandel noch auf strikter Abschottung durch Zollschranken beruhen.

Nur auf Basis des europäischen Verbraucher- und Umweltschutzes und ohne Schiedsgerichte kann man über ein Abkommen mit den USA sprechen.

Im Zuge der "Chlorhühnchen"-Proteste gegen das Freihandelsabkommen TTIP machte sich auch der frühere Grünen-Chef Anton  Hofreiter für eine strikte Abschottung Europas vor dem verderbten Einfluss außereuropäischer Sitten stark.

Wie Du mir: Ein Sondervermögen für den Handelskrieg

Zollkontrolle baustelle
Europas Einfuhrabgaben heißen "Vergeltungszölle". Sie werden nur erhoben, um überhöhten "Strafzöllen" zu begegnen - nicht aber, wenn Indien sie erhebt.

Drei Jahre lief der Krieg im Osten weitgehend routiniert ab. Die Russen griffen zivile Infrastruktur an, sie zerstörten, was sie ursprünglich hatten erobern wollen, und dabei begingen sie reihenweise Kriegsverbrechen. Die Ukrainer wehrten sich nach Kräften, unterstützt vom  Westen mit immer genau zugemessen Waffenlieferungen. Zu Beginn reichten 5.000 Helme, später kamen Stiefel dazu und Schutzwesten, schließlich gab es alles außer Taurus. Die Welt hatte zu einem neuen Normal gefunden, ganz wie es von Bundespolitikern vorhergesagt worden war.  

Schock am Nachmittag

Der Schock kam mit jenem Nachmittag im Weißen Haus, als Donald Trump den ukrainischen Präsidenten Volodymyr Selenskyj wie einen kleinen Jungen über das Verhältnis von Koch und Kellner unterrichtete. Das Zerwürfnis zwischen den USA und der Ukraine erreichte als Erdbeben der Stärke 10 auch Deutschland und es beendete die lange Phase des Schwebezustands zwischen der Sehnsucht, die Amerikaner mögen doch endlich Schluss machen mit dem Russen, und der Angst, dabei selbst zum Schlachtfeld zu werden.

Trumps Friedenssehnsucht ließ Europa im Zentrum eines Zweifrontenkrieges zurück. Militärisch abgehängt, wirtschaftlich in einer schweren Krise, die bereits länger anhält als jede andere seit 1929. Die deutsche Politik, angeführt von Friedrich Merz, reagierte blitzschnell auf die Lage, die nicht neu war, aber nun unabweisbar: Ein gewaltiges Geldpaket, nach dem Vorbild der ersten Kriegskredite aus dem Jahr 2022 wieder "Sondervermögen" getauft, wurde jenseits der völkerrechtlich bindenden Maastricht-regeln, ohne Erlaubnis der EU-Kommission und ohne direkte Zweckbindung erfunden. Helikoptergeld, dazu gedacht, der taumelnden Wirtschaft mit dem Argument, der Russe stehe sonst bald vor der Tür, Aufträge zu verschaffen. 

Der nächste Doppelwumms

Ein Doppelwumms, wie der scheidende Kanzler Olaf Scholz die handstreichartig noch durch den alten Bundestag gepeitschte größte Verschuldungsorgie der deutschen Geschichte genannt hätte, wäre der blumige Begriff nicht schon für viel kleinere staatliche Handreichungen zur Überlebenshilfe verbraucht worden. Ein Doppelwumms aber auch, der schon einen Monat später kaum mehr ausreichen wird, um Deutschland, seine Wirtschaft und seine Bürger vor den Auswirkungen des neuen Unheils zu schützen, das aus Amerika kommt. 

Nicht einmal 20.000 Euro stehen aus den beiden Sondervermögen pro Kopf der Bevölkerung zur Verfügung. Pro Jahr sind es sogar nur rund 3.600 Euro, also knapp 300 Euro im Monat. Damit lassen sich keine großen Sprünge machen, denn sobald die EU die von Donald Trump verhängten Angriffszölle erst mit ihren Verteidigungszöllen gekontert haben wird, müssen die Verbraucher im Inland in die Bresche springen, um die Rückabwicklung der Globalisierung abzufedern. Mehr Konsum wird nötig, mehr Verbrauch, mehr Dienstleistungen sind zu nutzen, um mehr Handelspartner jenseits der USA davon zu überzeugen, dass es sich lohnt, mit den 440 Millionen Europäern Handel zu treiben. 

Freihandelsverhandlungen über Jahrzehnte

Um den Weg zu ebnen, verhandelt die EU seit 2007 mit Indien über ein Freihandelsabkommen. Die bisher vom bevölkerungsreichsten Land der Welt erhobenen Einfuhrzölle von zwischen 27 und 30 Prozent gelten als großes Handelshemmnis, seit mittlerweile sechs Jahren versucht die EU, die überzogenen Einfuhrabgaben mit einer Klage bei der Welthandelsorganisation aufheben zu lassen. Auch Bitten der Gemeinschaft, die überhöhten Zölle aufzuheben, fruchteten nicht

Auch mit Südamerika kommt die Gemeinschaft nicht voran. Zwar einigten sich die beiden großen Wirtschaftsräume im Dezember vergangenen Jahres nach 24 Jahren intensiver Verhandlung auf den Abschluss eines Freihandelsabkommen mit den Mercosur-Staaten. Doch rechte Bauernverbände und linke Kampagnenorganisationen konnten bisher erfolgreich verhindern, dass das Mercosur-Ankommen ratifiziert werden konnte, gegen das Frankreich, Irland, Polen, Österreich und die Niederlande mit Blick auf ihre Landwirtschaft ohnehin nach wie vor Bedenken haben. 

Deutschland hofft, Frankreich bremst

Deutschland hingegen erhofft sich Hilfe für seine wankende Autoindustrie. Bisher erheben die Mercosur-Staaten 35 Prozent Einfuhrzoll auf Fahrzeuge. Das ist deutlich mehr als die USA nach Trumps Erhöhungserklärung eintreiben. Und es hat dazu geführt, dass aus Deutschland im gesamten Jahr 2023 nur 20.700 Pkw nach Argentinien und Brasilien exportieren konnte.

Trotzdem gilt Freihandel mit anderen Wirtschaftsräumen in Deutschland je nach der zollerhebenden Seite als hilfreiches Mittel, Handelspartner zu erziehen. Komme das Mercosur-Abkommen, das Zölle auf Gegenseitigkeit senkt und Handelsbarrieren niederreißt, drohe zum Beispiel die "Abholzung im Amazonas, eine katastrophale Ökobilanz und  Produktstandards" würden gesenkt, argumentieren die Anhänger europäischer Abschottung, deren Anliegen unter anderen von der Organisation "Campact" öffentlich vertreten wird. 

In der Hand der Petitionsfabrik

Bei der Lobbyorganisation, die vor 20 Jahren in Verden an der Aller gegründet wurde, handelt es sich um eine Petitionsfabrik, deren Etat von 14 Millionen aus sogenannten "Spenden" stammt, für die undurchsichtiges Geflecht aus in- und ausländischen Stiftungen sorgt. 87 Vollzeitangestellte, aus Gründen der Steuerersparnis  eine nach dem Verlust der Gemeinnützigkeit eigens gegründete eigene "Bewegungsstiftung" finanziert, haben bisher erfolgreich dafür gesorgt, dass sich das EU-Parlament  dem Druck bisher wacker beugte, mehr Freihandel und niedrigere Zollsätze zuzulassen. Straßburg spielt auf Zeit. Vor 2026, heißt es derzeit, werde das Abkommen sicher nicht in Kraft gesetzt. Und ob es danach dazu kommt, ist offen.  

Besser wird es dadurch aber nicht für die deutsche Wirtschaft, der die Vereinigten Staaten im kommenden Handelskrieg als Absatzmarkt ausfallen werden, der sich aber ohne neue Freihandelsabkommen keine neuen Verkaufskanäle öffnen. Natürlich hätte die EU ihre Zollsätze nach dem Angriff aus Washington auf null senken können - es wäre eine Einladung an die USA gewesen, auch ihre Einfuhrabgaben zu senken und die Welt hätte sehen können, wie ernst es Donald Trump wirklich meint mit seinem Plädoyer für den freien Handel. 

Brüsseler Kriegslogik

Doch in der Kriegslogik, der Paris, Berlin, Brüssel und Straßburg folgen, griff die Kommissionsvorsitzende Ursula von der Leyen automatisch zu Vergeltungsandrohungen Richtung USA, kaum dass Trump seine Schautafeln mit den neuen reziproken Zollsätzen vorgestellt hatte. Die höheren Zölle würden für Verunsicherung sorgen und "eine Spirale in Gang setzen und zu weiterem Protektionismus führen" sagte die frühere deutsche Verteidigungsministerin, unter deren Regie die EU  sich seit Monaten darauf vorbereitet, mit "Gegenzöllen" auf US-Waren auch in der EU für "höhere Kosten für die Verbraucher bei Lebensmitteln, Medikamenten und im Transportwesen" zu sorgen.

Wie das geht, wissen sie in Brüssel genau. Erst im vergangenen Jahr hatte die Kommission die Brandmauer rund um Europa ein weiteres Stück  hochgezogen, um die hochsubventionierten hiesigen Autofabriken vor der hochsubventionierten Konkurrenz aus Asien schützen. Zuvor schon war die frühere Zollfreiheitsgrenze von 150 Euro für private Einkäufe im Nicht-EU-Ausland aufgehoben worden. Die Maßnahme war Teil des Planes EU first, der auf das gezielte Durchtrennen von Lieferketten setzt, um Europas Resilienz zu stärken.

Vergeltungszölle gegen Strafzölle

Wie Zölle, die die USA verhängen, stets "Strafzölle" sind, heißen die, mit denen Europa seine Grenzen vor fremden Waren schließt, immer "Vergeltungszölle". Ihr Ziel ist edel, die Absicht gut. Europa soll möglichst bald selbst wieder Hosen schneidern, Telefone zusammenlöten, den Bedarf an Medikamenten, Hifi-Anlagen und Schuhwerk innereuropäisch zu decken. Helfen soll dabei eine neue originelle Reparaturkultur, die Menschen in die Lage versetzt, mit staatlichen Zuschüssen Elektroschrott wieder nutzbar zu machen. Aber eben auch, den gemeinsamen Markt zuverlässig vor einer rücksichtslosen Billigkonkurrenz abzuschotten, die wegen niedrigerer Löhne, niedrigerer Energiepreise, niedrigerer Steuern und Abgaben in der Lage ist, gleichartige Waren günstiger anzubieten.

Eine verfahrene Situation, in der den künftigen Koalitionären in Berlin kaum mehr Auswege bleiben. Neue Freihandelsabkommen, um den amerikanischen Markt zu ersetzen,  können wegen umweltrechtlicher Bedenken, der Frage gleicher menschenrechtlicher Standards und aus Rücksicht auf die eigene Landwirtschaftsindustrie nicht abgeschlossen werden, weder auf kurze noch auf lange Sicht. 

Strikt abgegrenzter EU-Binnemarkt

Der Binnenmarkt der Union aber, mit 447 Millionen Kunden, 23 Millionen Unternehmen und einem Wert von 14 Billionen Euro im Jahr der größte der Welt, wächst schon seit Jahren nicht mehr. Immer noch ist er in Teilen national abgeschottet, eifersüchtig wachen die 27 Regierungen darüber, dass Europäer keine Verträge über Ländergrenzen hinweg schließen können, die Rundfunk-, Energie- und Telekommunikationsmärkte strikt getrennt bleiben.

Außer einem weiteren Sondervermögen, diesmal gedacht für die inländischen Konsumenten, stehen der neuen Bundesregierung kaum Instrumente zur Verfügung, um die drohenden Absatzverluste durch den Ausfall Amerikas als Abnehmer auszugleichen. Großzügig genug geschnitten, könnte ein frisches, richtig pralles Geldpaket aber zum Knotenlöser werden: 500 Milliarden Euro, ausgeschüttet zu gleichen Teilen an alle Bürgerinnen und Bürger, wären runde 5.000 Euro pro Kopf der Bevölkerung. 

Eine Waffe für den Handelskrieg

Ausreichend Geld, um die nach wie vor viel zu spärlichen Konsumausgaben der Deutschen zu verdoppeln und das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) schlagartig in lange nicht gesehene Höhe zu katapultieren. Der private Konsum trägt in der Regel etwa die Hälfte zum BIP bei, seine Verdopplung würde das jahrelange Schrumpfen im Handumdrehen in einen explosiven Anstieg verwandeln. 

Deutschland wäre wieder die Wachstumslokomotive Europas, Donald Trump geschlagen und der Handelskrieg gewonnen. Es wären die Vereinigten Staaten, die in Europa um die Gnade bitten würden, wieder amerikanische Waren anzunehmen. Und es wäre ein stolzes, ungebrochenes Europa, das selbstbewusst sagen könnte, man sei bereit, darüber nachzudenken.

 

Freitag, 4. April 2025

Nimm zwei: Ein Frauenbild aus der Stein-"Zeit"

Auf einmal wieder zwei: Die "Zeit" hat die Geschlechteruhr zurückgedreht. Im kommenden Krieg sollen Söhne sterben, Mädchen hingegen Soldatennachwuchs zur Welt bringen.

Geschlechtergerechtigkeit für alle, das müsste auch heißen, dass alle an die Front eilen, wenn Vater- und Mutterland bedroht sind. Der von den Grünen vorgeschlagene "Freiheitsdienst" folgt diesem Ansatz. Wo das Selbstbestimmungsgesetz noch eine klare rote Linie zog - sobald der Verteidigungsfall ausgerufen ist, darf niemand mehr durch einen Geschlechterwechsel fahnenflüchtig werden - sieht der Friedensdienst der neuen Art eine gerechte Lösung vor, die nicht nur Jüngere, sondern alle bis zum Regelrentenalter in Dienst für die Gemeinschaft nimmt.

Keine Uniform für jede*n

Israel macht es seit Jahrzehnten vor.  Ob Mann oder Frau, eine Uniform findet sich für jede*n, ob er will oder nicht. Deutschland war eben auf dem richtigen Weg, doch schon kommen die Bedenkenträger aus ihren steinzeitlichen Ritzen, bewaffnet mit Geschlechterbildern aus dem Mittelalter. "Frauen dienen längst", behauptet Nele Pollatschek, die Frau mit der ausgeprägten Angst vor dem einen weißen Mann da drüben in Amerika. Eine allgemeine Wehrpflicht für alle widerspreche "der Kriegslogik", denn ein "Land, das sowieso mit massiver Überalterung" kämpfe, könne nicht auch noch "die wenigen Frauen im reproduktionsfähigen Alter an die Front schicken".

Wer soll denn dann 20 Jahre später kämpfen? Nein, schreibt Pollatschek, dann "kann man das mit dem Krieg auch gleich lassen". Schreckliche Aussichten. Vor allem aber schreckliche Ansichten. Noch vor zehn, zwölf Monaten wäre zweifellos ein shitstorm über der Autorin der Hamburger Wochenschrift "Die Zeit" hereingebrochen, hätte sie die krude rechtsextremistische These von den "zwei Geschlechtern" öffentlich geäußert, um mit einem Schlag die Hälfte der Bevölkerung unabkömmlich zu stellen. 
Doch "Krieg ist wie Zeitreise, nur dümmer " (Pollatschek). Auf einmal gelten tatsächlich andere, uralte Regeln. 

Wissenschaftliche überholt

Was eben noch wissenschaftlich überholt war, eine ewiggestrige Ansicht, die zu wiederholen als "menschenverachtend" kaum scharf genug kritisiert und mit der ganze Härte des Gesetzes bestraft wurde, ist wieder hoffähig geworden. Selbstbestimmungsgesetz hin, Selbstbestimmungsgesetz her. Ausgerechnet die "Zeit", die sich von ihren rassistischen Ausfällen emanzipiert und als Organ des Menschheitsfortschritts neu erfunden gehabt zu haben schien, fällt zurück in die atavistische Glaubenswelt der Joanne K. Rowlings, Alice Schwarzers und Birgit Kelles. Zwei Geschlechter. 

Zwar nennt auch das Selbstbestimmungsrecht kein einziges mehr - als Voraussetzung für die Änderung eines Vornamen gibt es ausdrücklich vor, "dass der Antragsteller sich dem anderen Geschlecht als zugehörig empfindet" - doch spätestens seit Donald Trump in den USA alle anderen Geschlechter verboten hat, ist das Bekenntnis zur Vielfalt auch ein Akt des Widerstandes gegen das simplifizierende Weltbild der Weidels, Musks und Merz. Nur weil Krieg kommt und Soldaten fehlen, soll es plötzlich wieder möglich sein, nicht nur Teenager zu bewaffnen und Söhne zu zwingen, für ihre Eltern zu sterben. Sondern auch, alle wissenschaftlichen Erkenntnisse darüber zu leugnen, dass Geschlecht eher ein "Spektrum" (Deutsche Welle) ist als in den Genen festgeschriebene Tatsache. 

Wehrpflicht nach Chromosomen

Frauen mit XX-Chromosomen, Männer mit XY-Chromosomen, beide im Waffenrock, beide mit geschultertem Gewehr und stolzem Blick frei geradeaus, Liegendanschlag im Effeff, rühren. Girl`s Day beim Heer, Frauentag bei den Kampftauchern. Die Männer macht den Fourier und an Trans Visibility Day reitet das General mit dem Einhorn die Parade ab. Nele Pollatschek aber will das nicht. Ihre Vorstellung ist die einer aggressiven Männerarmee wie früher, richtige Kerle, die die Damenwelt beschützen, damit die neue Soldaten gebären kann - als wären Männer dazu nicht genauso gut in der Lage

Die Pflicht, alle Vielfalt der Geschlechtervorstellungen zu akzeptieren, scheint plötzlich aufgehoben, wenn es "irgendwie" (Pollatschek) "um die Verteidigung der Gegenwart, um unser freiheitlich-demokratisches Wertesystem" geht. Auf einmal wird die Geschlechterfrage wieder beantwortet wie im Dritten Reich oder in der sozialistischen DDR-Armee, nur diesmal im Namen von Nachwuchsgewinnung für das dritte Kriegsjahrzehnt. Was für ein mieses Spiel mit den Gefühlen von Betroffenen, die eben erst den Eindruck bekommen hatten, sie dürften beim nächsten Mal, wenn für Freiheit, Demokratie und westliche Werte gestorben wird, ganz vorn mit dabei sein.

Nur ein Geschlecht soll sterben

Geht es aber nach Nele Pollatschek, denn müssen sie wieder zurückstecken. Frauen, Mädchen, Transgenderpersonen, die es vor Ausrufung der Mobilisierung nicht mehr geschafft haben, sich beim Standesamt als Mann anzumelden - sie sollen daheim bleiben, während deutsche Söhne sterben, damit Deutschland leben kann. Irgendwer müsse "sich darum kümmern, dass wir nicht in einem großrussischen Imperium aufwachen", heißt es in der "Zeit". Aber es sollten schon ausschließlich Männer sein, die die Bundeswehr als "Soldaten" (Zeit) braucht. Das Wort "Soldatinnen", also genau die Zielgruppe, um die Heer, Luftwaffe und Marine so dringlich werben, taucht überhaupt nicht auf.

Die Zollunion: Ist das nun endlich das Ende der Welt?

Zölle bedeuten Ennahmen, wirbt die EU auf ihren offiziellen Internetseiten bis heute stabil für die wohlstandsschaffende Kraft von Handelshemnissen.

Kaum war der Schock über die Friedenstreiberei in Washington abgeklungen, kaum hatten die Mitglieder des alten Bundestages die neue Bundesregierung noch finanziell aufgerüstet, um ihr alle Möglichkeiten zu geben, im anstehenden Wirtschaftsabschwung wenigstens ein paar Rüstungsunternehmen aufrecht halten zu können, krachte es schon wieder in Übersee. Messergewalt. Brandmauer. Verrat an der Nato. Billionenpaket. Nichts war mehr wichtig. Außer ein neues Wort: Zölle.

US-Zölle als Strafe 

Trump würde sie einführen. Trump würde sie erhöhen. Trump würde sie als Strafe anwenden. Trump würde damit die Weltwirtschaft zerstören. Er könne nicht gewinnen, sei aber zu dumm, das zu verstehen. Mitten im ideologischen Gerangel um die korrekte Deutung von Meinungsfreiheit, Kriegstüchtigkeit und amerikanische Schutzpflichten gegenüber Europa eine neue Baustelle. 

Und ausgerechnet dort, wo das Jammern und Klagen unüberhörbar bis in den Diskant schrillt, sitzen die, dich sich lange schon einer zunehmenden Abschottung verschrieben haben. Offiziell propagiert die Europäische Union natürlich den freien Handel. Jeder mit jedem, zu gleichen Konditionen. Zugleich ist die EU der am strengsten abgeschottete Wirtschaftsraum der Welt. 

Die Zollzäune rund um die Gemeinschaft sind hoch. Kein Wunder, denn im Ursprung war die EU bei ihrer Gründung im Jahr 1968 eine Zollunion. Sie zielte anfangs darauf, Unternehmen in ihren Mitgliedsstaaten den Handel durch harmonisierte Einfuhrabgaben zu erleichtern, indem Zölle auf Waren aus Nicht-EU-Ländern einheitlich abkassiert wurden. Bis heute sind die Zollbehörden der EU-Länder stolz darauf, "wie eine einzige Behörde zusammenzuarbeiten". Mögen EU-Staaten auch unterschiedliche hohe Umsatz- und Einkommenssteuertarife haben: Auf Waren, die aus Drittländern außerhalb der EU in ihr Hoheitsgebiet eingeführt werden, wenden sie einheitlich die gleichen Zolltarife an.

Viermal höher war nicht hoch

Zölle bedeuten Einnahmen
Die sind, was etwa amerikanische Autos betrifft, viermal so hoch wie die, die die Vereinigten Staaten für aus der EU importierte Fahrzeuge erheben. Natürlich, denn Zölle auf Waren, die in die EU eingeführt werden, sind Teil der sogenannten "Eigenmittel" der Staatenfamilie. Muss die Kommission um die Zuschüsse aus den Mitgliedsländern stets betteln, mit denen sie ihren Haushalt polstert, fließen ihr die Zolleinnahmen von selbst zu. Drei Billionen Euro macht das im Jahr, "Zölle bedeuten Einahmen", lobt die EU selbst die Geldquelle, aus der sie 14 Prozent ihrer Ausgaben deckt. Bei den Mitgliedstaaten verbleibt nur ein Viertel der Einnahmen, das dazu dient, deren Aufwendungen bei der Erhebung der Einfuhrabgaben auszugleichen.

Seit Jahren schon zieht die EU die Mauern höher, die sie um sich errichtet hat. Mit unterschiedlichen Begründungen wurden Bagatellgrenzen für steuerfreie Importe von Privatleuten erhöht.  Es wurden  neue EU-Regel verabschiedet, mit denen die Gemeinschaft der 27 der Globalisierung Grenzen zieht. Eine Grenzausgleichsabgabe ist erfunden worden, die Güter, die dank der Arbeitsteilung in anderen Weltgegenden günstiger hergestellt werden können, aus der Gemeinschaft heraushalten. Zuletzt startete die EU-Kommission dann auch noch einen Handelskrieg mit China, der helfen soll, die tief in der Rezession steckende eigene Wirtschaft vor der vitalen Konkurrenz aus Fernost zu schützen. 

Kein gemeinsamer Markt ohne gemeinsame Demokratie

TTIP, das über fast ein Jahrzehnt verhandelte Freihandelsabkommen mit den Nordamerikanern, scheiterte am Protest hunderttausender Menschen in Deutschland, die Zölle ebenso lieben wie Donald Trump. Sven Giegold, bis heute ein grüner Vordenker, erteilte dem Ansatz, zollfrei miteinander zu handeln, vor zehn Jahren eine entschiedene Absage: "Ein gemeinsamer Markt braucht eine gemeinsame Demokratie."

Die SPD ließ TTIP scheitern. Die Grünen riefen "Chlorhähnchen"! Die Union stand wie stets gelähmt daneben. Angela Merkel, seinerzeit noch Kanzlerin, wägte klug ab, was das Abkommen bringen würde und was es kostet. Die Menschen im Land, die laut zu hören und in den Medien zu sehen waren, wollten es nicht. Lieber Zölle statt Freiheit! Danach entschied sie, vom Ende her und von der Brieftasche. Die Brandmauer zu den Amerikanern und ihrem fragwürdigen Verständnis von Demokratie, sie steht bis heute. Die EU ist eine Zollinsel, die sich schwertut, überhaupt Freihandelsabkommen abzuschließen. Immer ist etwas, immer passt es nicht.  Selbst die besten Freunde unter den Demokraten weltweit schaffen es nicht, die Standards einzuhalten, die Europa erwartet.

Das Elend Europas

Es führt ein gerader Weg von einer Kommission, die von keinem einzigen Europäer demokratisch gewählt wurde, über ein Parlament, von dem EU-Experten selbst sagen, es mangele ihm an demokratischer Legitimation, zum Elend eines Europas, das aus Angst vor Konkurrenz seine Schotten dichtmacht. Neben den Zollhürden hat der Brüsseler Apparat noch allerlei andere Schikanen erfunden: Das Lieferkettengesetz und das Plastikverbot, eine bunte Vielfalt an technischen Auflagen und zuletzt auch Bedenken beim Schutz von Verbrauchern vor dem Einkauf von Pfennigartikeln bei Temu und Shein.

Was bleibt der EU auch anderes übrig. Seit 15 Jahren schon produziert die Gemeinschaft für ihre 440 Millionen Bürgerinnen und Bürger keinen Wohlstandszuwachs mehr. Die Infrastruktur nicht nur in Deutschland erodiert. Die Rekordeinnahmen der Staaten reichen nicht einmal mehr, um notwendige Ersatzinvestitionen aufzubringen. Die Zahl der Leistungsträger schrumpft, die Zahl der Kostgänger steigt. Zwar boomt der Zuzug von außerhalb und niemals gab es mehr Staatsbeamte als heute. Doch was in der Industrie, im Handwerk und in der übrigen Wirtschaft an Gewinnen erzielt wird, verschwindet in den tiefen Taschen eines Staatsapparates. 

Seit 2009 stiegen die Einnahmen des Bundes von 524 Milliarden Euro auf 916 Milliarden Euro. Jeder Bürger, der vor 15 Jahren noch mit einer Zahlung von 8.742 Euro davonkam, berappt heute 10.900 Euro Steuern im Jahr. Ein Anstieg von mehr als 25 Prozent, bei einer Erhöhung der durchschnittlichen Löhne und Gehälter von nur 50 Prozent.  

Klagen aus der europäischen Herzkammer

Zuletzt beklagte mit Mario Draghi sogar ein ausgewiesener europäischer Hans Dampf in allen Gassen eine desaströse Entwicklung. Europa sei bei der Produktivität "schwach, sehr schwach". Zwischen der Wertegemeinschaft und den USA habe sich "eine große Lücke im Bruttoinlandsprodukt aufgetan", durch die das "verfügbare Pro-Kopf-Einkommen in den USA seit 2000 fast doppelt so schnell gestiegen". Die europäischen Haushalte hätten den Preis für diese Entwicklung, die allem entgegensteht, was die EU sich selbst immer wieder auf die Fahne schreibt, "in Form eines entgangenen Lebensstandards gezahlt".

Das ursprünglich als Wohlstandsmaschine gedachte und gegründete Reich der gleichen Nationen ist in eine falsche Richtung unterwegs, doch es fährt zu schnell, um umkehren zu können. Statt am Lenker zu drehen, wird immer weiter standardisiert, bürokratisiert und politisiert. Die Wirtschaft ist deprimiert. Die Steuerzahler sind konsterniert. Die Kommissionspräsidentin aber ist nicht irritiert: Mit einem Selbstbewusstsein, das sich aus dem Umstand speist, dass noch jede EU-Kommission mit jeder noch so miserablen Bilanz am Ende gefeiert aus dem Saal getragen wurde, bläst Brüssel den Amerikanern den Marsch. Man droht mit "Gegenmaßnahmen". Man bereitet Gegenmaßnahmen vor. Man wird "reagieren"

Logik der Eskalation

Die Logik der Eskalation folgt aus der Erkennntnis, dass höhere Zölle höhere Inflation bedeuten. Wenn das der Trump in den USA machen kann, warum dann nicht wir auch? Wo Ursula von der Leyen mit ihrer Betonfrisur auftaucht und von "freiem Handel" spricht, meint sie natürlich das Äquivalent zur   Unabhängigkeit der Geldpolitik, wie sie die vorbestrafte EZB-Chefin Christine Lagarde definiert. Wie "Zölle Einnahmen bedeuten" (EU), so ist die Produktion der Notenpresse zur Staatsfinanzierung Wohlstand. Die einfachste Antwort auf Trumps Zumutung wäre es natürlich, die eigenen Zölle auf null zu setzen. Nach edrr Logik des Amerikaner würde er das mit derselben Höhe an Zöllen beantworten.

Doch man kann auch wieder Whiskey, Jeans und Motorräder kräftiger verzollen. Es war doch immer alles richtig, selbst das, was später falsch gewesen ist. Von der Hartz-4-Reform, die sehr gut gewesen ist, bis sie abgeschafft werden musste, über das Bürgergeld, das eine gerechte Lösung war, bis es sich als nicht mehr tragbar erwies. Jede einzelne der vielen Krisen, die die europäische Schicksalsgemeinschaft wohlbehalten, aber im Zustand zunehmender Schwäche überstanden hat, wurde von außen ausgelöst. Die Spekulation deutscher Landesbanken in Amerika und Irland - Schuld der Amerikaner. Das Corona-Virus, ob nun im Labor oder auf einem Wildtiermarkt enstanden, in jedem Fall aus China. Der Krieg, für den ganz allein  Russland verantwortlich ist. 

Eine EU der Entschuldigungen

Eine ganze Großabteilung in der EU-Zentrale im berühmten Baerleymont-Palast in Brüssel ist damit beschäftigt, Schuldige ausfindig zu machen fortgesetzte Versagen der EU beim Versuch, aus immer mehr Regulierung, immer mehre hehren Zielen und immer steiferer Bürokratie ein nachhaltiges Wachstumsmodell zu erschaffen. Diesmal soll es nun wieder Trump sein, der für das sogenannte "Schwächeln" der Wirtschaft verantwortlich ist, das mittlerweile das fünfte Jahr anhält. Immer sind andere schuld. Niemals man selbst.

Der Demiurg aus dem Weißen Haus liefert schon zum zwieten Mal seit seiner Amteinführung eine neue Mega-Entschuldigung für Notfallmaßnahmen: Sein Verrat an der Ukriane und am restlichen westlichen Bündnis ermöglichte den großen Nachrüstungsbeschluss. Seine Zollankündigungen gestatten es, Gleiches mit Gleichem zu vergelten und das absehbare Scheitern als unvorhersehbar zu erklären.

Zurückbleiben als DNA

Wäre es Europäischen Union jemals um ein anderes Ziel gegangen als das des Ausbaus des eigenen Apparats und der Ausweitung der eigenen Zuständigkeiten, sie hätte längst erklären müssen, dass das Vorhaben gescheitert ist. 27 Köche an einem Topf sind zu viel. Alle Zahlen, die sich heranziehen lassen, deuten daraufhin, dass eine immer tiefere Integration durch immer mehr Regeln und Zwangsmaßnahmen von oben keineswegs dazu führen, dass ein Wirtschaftsraum dynamischer, dass er mehr Ideen hervorbringt und mehr Fortschritt und letzten Endes mehr Wohlstand für seine Bürger produziert.

Ganz egal, mit welchem Staat sich die EU vergleicht, mit Norwegen, Kanada, der Schweiz, Indien,  Australien oder China, sie schneidet immer denkbar schlecht ab. Mit dem Thema Aufrüstung und dem neuen Handelskrieg sind nun aber zwei Begründungen gefunden worden, die erklären, warum es jetzt wieder nicht steil aufwärts geht. Allen Erfahrungen nach halten solche Erklärungen vier, fünf, vielleicht sogar sechs Jahre lang. So lange wird die Kommission sich damit beschäftigt zu halten, die Mitgleidsstaaten werden gemeinsame Lösungen suchen und Beamte in Trab gehalten, umfangreiche neue Zielvorgaben zu erarbeiten und neue Regelwerke zu ihrer Erreichung zu erstellen.

Bis dann, irgendwann, eine neue große Aufgabe ansteht.

Donnerstag, 3. April 2025

Kleidungsboom: Nur die Hitze kann uns retten

Je wärmer es wird, desto weniger gefragt sind Textilien.


Das 1,5-Grad-Ziel gerissen, die zwei Grad im Blick und in Deutschland sogar schon weit übertroffen. Zeigt sich da endlich ein Ausweg aus der europäischen Kleiderkrise? Die hatte zuletzt beunruhigende Nachrichten an ausgesandt: Danach haben die Bürgerinnen und Bürger in der Europäischen Union zuletzt so viel Kleidung, Schuhe und andere Textilien wie niemals zuvor verbraucht. Nach Angaben der Europäische Umweltagentur EEA kauften EU-Bürger im Jahr 2022 durchschnittlich etwa 19 Kilogramm an Textilien pro Kopf – darunter acht Kilogramm an Kleidungsstücken, vier Kilogramm Schuhe und sieben Kilo Haushaltstextilien.  

Genug für einen großen Koffer

Wie die EEA mit Sitz in Kopenhagen errechnet hat, reicht das, um einen großen Koffer zu füllen. Beunruhigend ist vor allem die Steigerung der Nachfrage. Noch 2019, vor Corona und der großen Energiekrise, habe der Gesamtverbrauch an Textilien bei nur 17 Kilogramm gelegen, in den Jahren davor zum Teil nur bei 14. Und das, obwohl es vor 2020 deutlich kühler war. Mit einer Mitteltemperatur  von 10,3 Grad Celsius war etwa das Jahr 2019 noch 0,02 Grad kälter als 2022. Dennoch kamen die Menschen seinerzeit mit weniger Kleidung aus.

Die Experten vom Climate Watch Institut (CWI) im sächsischen Grimma sehen allerdings eine deutliche Korrelation des Konsumbooms bei Bekleidung und der Energiekrise, die Anfang 2022 mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine ausbrach. Zwar habe Bundesklimawirtschaftsminister Robert Habeck Deutschland alles in allem gut durch die Zeit des Erdgasmangels gebracht, so gut sogar, dass das Herunterfahren der letzten verbliebenen Kernkraftwerke von Wirtschaft und Verbrauchern problemlos geschultert werden konnte.

Blind befolgte Sparappelle

"Aber Fakt ist", sagt CWI-Forschungsleiter Herbert Haase, "viele Haushalte den damals grassierenden Sparappellen blind folgten." Empfehlungen wie die, Daunendecken, Socken und dicke Jacken zu tragen, statt die Thermostate aufzudrehen, hätten zweifellos zu Zuständen geführt, unter denen Umwelt und Klima leiden. "Der hohe Textilkonsum bringt natürlich, das hat die EEA zweifellos richtig erkannt,  hohe Belastungen für die Umwelt und das Klima mit sich – etwa durch den Verbrauch von Materialien, Wasser und Landfläche, aber auch in Form von Emissionen, Chemikalien und Mikroplastik."

Haase verweist darauf, dass auch die bisher erreichte - und im Fall Deutschlands bereits übererfüllte - Annäherung an das Zwei-Grad-Ziel der Weltgemeinschaft offenbar nicht ausreiche, die falschen Weichenstellungen aus dem ersten Winterohnegas zu korrigieren. "Zuletzt lebten nach Erkenntnissen des Statistikamtes der Europäischen Union immer noch rund 6,9 Millionen Menschen allein in Deutschland in unzureichend beheizten Wohnungen", beschreibt er das Ausmaß des Problems. Europaweit seien sogar 47 Millionen Menschen betroffen.  

Wachsende Vorräte

Das ständige Zittern und Frieren führe trotz mutiger Prominenter, die das unduldsame Aushalten von Kälte beispielhaft vorlebten, zu einem erhöhten Bedarf an Bekleidung. Das zeige sich auch an vorliegenden Zahlen über die Auslaufmengen, die von Haushalten in der EU wegen ihres schlechten Zustandes aussortiert worden seien. "Insgesamt waren das in den 27 EU-Mitgliedstaaten im Jahr 2022 rund 6,94 Millionen Tonnen an Textilmüll", fasst Haase zusammen.

Die Gesamtmenge erscheine auf den ersten Blick zwar gewaltig, doch das entspreche letztlich nur etwa 16 Kilogramm pro Person. "Wir sehen an diesen Daten, dass jeder Vierpersonenhaushalt seine Vorräte an Jacken, Hosen, gefütterten Stiefeln und Schals im Durchschnitt um zwölf Kilogramm ausgebaut hat.

In Asien kein Widerhall

Herbert Haase ist skeptisch, ob ein Aufruf wie der aktuelle der Europäischen Umweltagentur, dass  Europa von Fast Fashion abrücken müsse, bei den Betroffenen verfangen. Wer friere, frage nicht nach der gesamtgesellschaftlichen Textilbilanz, sondern greife im Laden zu. "Auch der Aufruf an die Hersteller in Fernost, bessere und langlebigere Textilien herzustellen, die am besten auch noch wiederverwendet, repariert und recycelt werden können, erscheint in seiner Wirkung zweifelhaft." 

Die CWI-Textilökonomen haben 397 Internetseiten von Medien, Radio- und Fernsehsendungen sowie Tageszeitungen im gesamten europäischen Lieferkettenraum zwischen Pakistan, den Philippinen, Vietnam, Kambodscha, Indonesien, Thailand und China geprüft. "Nirgendwo ist die Meldung aufgegriffen worden."

Die Hitze muss es retten

Das zeige, dass Politik, Industrie und Verbraucher in Europa auf andere Mittel setzen müssten, um den Kleiderberg zu verkleinern, auf dem die Europäer sitzen. "Ursprünglich waren Experten etwa der Cornell University davon ausgegangen, dass durch den Klimawandel bis 2030 allein in Bangladesch, Kambodscha, Pakistan und Vietnam Exporteinnahmen in Höhe von 65 Milliarden US-Dollar verloren gehen, weil die Nachfrage nach Bekleidung durch höhere Temperaturen sinkt." Einkalkuliert hatten die Forscher einen Verlust von fast einer Million Arbeitsplätze. 

Die schlechten Nachrichten aus Europas Kleiderschränken seien nun zwar gute Nachrichten für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Großnähereien, Schuhfabriken und  Designbüros in Asien. Doch der Preis, mit dem der Erhalt dieser Stellen erkauft werde, sei hoch. "Das zahlt alles unser Weltklima." Herbert Haase sieht jedoch Licht am Horizont. 

Aus für das Verbrenner-Aus

"Durch die Politikwende weg vom Klima als zentralem Gestaltungsinhalt der Bundesregierung und das von der EU angekündigte Aus für das Verbrenner-Aus kommen wir wahrscheinlich auf einen Klimapfad, der uns eine deutlich schnellere Erwärmung bringt." Höhere Grund- und Durchschnittstemperaturen aber bedeuteten tendenziell eine sinkende Nachfrage nach Ober- und dicker, aufwendig gesteppter Unterbekleidung. "Es ist also sehr wahrscheinlich, dass uns die zunehmende Hitze hilft, die Bekleidungskrise zu lösen."

Rüstungsausgaben der DDR: Endlos Luft nach oben

Viele Kritiker wollen Friedrich Merz sein Superschuldenpaket madig machen. Doch das Beispiel DDR zeigt: Da ist noch deutlich mehr drin.

Was ist da nur wieder los. Kaum eine Woche nach Vorlage des Rettungsplans, mit dem Friedrich Merz Deutschland resilient gegen äußere Einflüsse machen will, schimpft die halbe Republik über den neuen Kanzler, wie sie über den alten nie so einhellig geschimpft hat. Der Bundesrechnungshof kritisiert die geplanten großzügigen Grundgesetzänderungen und "übt scharfe Kritik an den schwarz-roten Plänen für ein Milliardenpaket" (Spiegel), das eigentlich billionenschwer ist. Die Wissenschaft äußert sich skeptisch, die Liberalen beharren darauf, dass der Staat erst einmal auf Diät müsse, ehe er noch mehr zu essen bekommen dürfe. Und die Linke sieht den Frieden von der geplanten Aufrüstung bedroht.

Von wegen Risiko

Angeblich, so hat der Bundesrechnungshof errechnet, sind schon die mit den neuen Milliardenbergen fälligen "Zinsen ein volkswirtschaftliches und soziales Risiko". Deutschlands wankende Wirtschaft könne die Last nicht tragen, selbst das Pflästerchen von 50 Milliarden für Klimazwecke werde ja aufgefressen von Zinszahlungen in gleicher Höhe. Natürlich hat die "Tagesschau" diese Milchmädchenrechnung längst widerlegt. Andere Staaten seien viel höher verschuldet. Andere müssten auch noch viel mher Zinsen bezahlen. Für Deutschland sei jeder Euro Kredit ein gutes Geschäft. Jetzt schon werde die Maastricht-Grenze nur ganz knapp überschritten, aber das sei kein Problem, weil sich wegen der eigenen Verfehlungen kein Partnerstaat beschweren könne. 

Nur die Last bleibt, und sie droht schwer zu werden. Kann sich ein Land, dessen Wirtschaft taumelt, dessen junge Generation an Bildungsschwäche und mangelnder Leistungslust leidet, dessen Infratsruktur verrottet ist und das im Kriegsfall das am schlimmsten bedrohte Gebiet würde, sich eine zusätzliche Zinslast von insgesamt 200 Milliarden Euro leisten? Wo doch ohnehin kein Geld da ist?  Derzeit zahlt der Bund nach Berechnungen des Bundesrechnungshofes für die Gesamtverschuldung bereits 34 Milliarden Euro pro Jahr an Zinsen. Würden die beiden Pakete beschlossen, so der Rechnungshof, kämen zum Beispiel im Jahr 2035 rund 37 Milliarden an zusätzlichen Zinsen hinzu.

Alarmeierte Rechnungshöfe

Besorgniserregend finden das die Landesrechnunghöfe der Länder. In einer gemeinsamen Erklärung warnen sie vor der massiven Kreditaufnahme und sie mahnen "einen vernünftigen Umgang mit den Mitteln an". Die Erfahrung sagt, dass der Staat immer alles Geld ausgibt, ganz egal, wie viel er gerade zur Verfügung hat. Die Rückzahlung erfolgt in der Regel über eine Umschuldung, so dass die Gesamtschuldenlast niemals sinkt, sondern nur gelegentlich langsamer steigt. Rückführung der Schulden. 

Der in Bautzen geborene Klimaökonom Herbert Haase widerspricht diesen kruden Thesen von der Gefahr durch überhohe Schulden entschieden. Haase, der Politikwissenschaften in Saarbrücken und Klimatechnik in Bremen studiert hat, ist mit einem Forscherteam am renommierten Klimawatch-Institut in Grimma (CWI) auf unabwendbare Beweise dafür gestoßen, dass Knauserigkeit weder angebracht noch geboten ist. 

Noch viel Luft nach oben

"Unseren Berechnungen zufolge ist bei den Rüstungsausgaben noch sehr viel Luft nach oben", sagt er. Die neue Bundesregierung habe keinen Grund, an der falschen Stelle zu sparen oder Strukturreformen an der staatlichen Gesamtorganisation durchzuführen, "von denen niemand weiß, was dabei herauskommt". Vielmehr könne Friedrich Merz den Wünschen jener Mehrheit der Deutschen nachkommen, die bereit ist, eine schwere Last zu schultern. 

"Da sind ja Dinge in Bewegung geraten", sagt Haase, "waren im vergangenen Jahr noch 52 Prozent der Wahlberechtigten gegen die Lieferung von mehr und schwereren Waffen an die Ukraine und nur 36 Prozent dafür, hat sich das Verhältnis nun mehr als umgekehrt." 62 Prozent der Deutschen sind nun dafür, dass die europäischen Staaten mehr Waffen und Munition liefern sollen, nur ein knappes Drittel ist dagegen. "Ein Freibrief für jede Regierung, die jetzt entschlossen handelt."

Sieben Prozent sind leicht möglich

Ein wirtschaftliches oder soziales Problem wäre das nicht, denn die Spielräuem sind Haase und seinen Wissenschaftlerkollegen zufolge da. "Die DDR mit einer Wirtschaft, die noch deutlich maroder und wettbewerbsunfähiger war als die der heutigen Bundesrepublik, gab mehr als doppelt so viel für Rüstung aus", erklärt der Forscher. Zwischen 1980 und 1989 hätten die Ausgaben der DDR für Militär und Rüstungsgüter durchschnittlich bei 14,6 Milliarden Mark gelegen.

"Das entsprach einem Durchschnittswert von 6,89 Prozent des DDR-Staatshaushaltes und einem durchschnittlichen Anteil von 4,91 Prozent des Bruttoinlandsproduktes der Funktionärsrepublik", verdeutlicht er die Dimension. Die DDR habe damit mehr Geld für ihr Militär ausgegeben als die USA, die auch heute nur auf knapp drei Prozent ihres BIP kommen.

Man muss es nur wollen

Pro Kopf zahlte jeder DDR-Bürger pro Jahr 876,80 Mark, um die NVA kampffähig zu halten, neue Waffen anzuschaffen und als Gastgeber auch noch das 500.000-Mann-Heer zu unterhalten, das die Sowjetunion "Westgruppe" nannte. 876 Mark entsprachen in der DDR einem Gehalt eines kleinen Angestellten oder eines einfachen Arbeiters - die derzeitigen deutschen Rüstungsausgaben in Höhe von 513 Euro liegen zwar umgerechnet zumindest numerisch höher, entsprechen aber nur einem Siebtel des durchschnittlichen Bruttomonatsgehaltes. "Wer da sagt, das sei zuviel, der belügt die Öffentlichkeit", ist Haase sicher.

Denn da ist noch jede Menge Luft nach oben. Faktisch  liegen die Militärausgaben der Bundesrepublik heute den Zahlen zufolge nur noch bei einem Siebtel dessen, was die damals noch als SED auftretende Linkspartei ihrem Staatsvolk bis 1989 für den notwendigen Erhalt des Friedens abrang. In heutigen Preisen und Gehältern gerechnet könnte die Bundesregierung die Rüstungsausgaben auf 3.500 Euro pro Kopf  erhöhen, insgesamt also auf 350 Milliarden Euro im Jahr. Dann erst lägen sie dort, wo sie bis vor 35 Jahren im Ostteil des Landes waren und klaglos akzeptiert wurden.

Und alles ohne Inflation

Dass es dabei zu schweren inflationären Extuberanzen kommen müsse, bestreitet der erfahrene und umsichtige Klimaökonom entschieden. Haase verweist darauf, wie es der DDR-Führung über Jahrzehnte gelungen sei, eine spürbare Inflation komplett auszuschließen. "Die staatliche Plankommission hat sämtliche Preise festgeschrieben, Unternehmen, die sie erhöhen wollten, brauchten dazu eine Genehmigung." Da die nur sehr selten erteilt wurde, griff der Mechanismus zur Inflationsvermeidung beinahe perfekt. "Es war dann einfach", erläutert Herbert Hase, dass Waren, die nachgefragt wurden, einfach nicht mehr angeboten wurden, wenn die volkseigenen Betriebe sie zu den Preisen nicht mehr erzeugen konnten, für die sie sie hätten verkaufen dürfen." 
 
Kein absolutes Neuland für die Bundesrepublik, wie er betont. Die Mietbremse, die von der schwarz-roten Koalition fortgeschrieben werden soll, funktioniere nach dem gleichen Prinzip. "Feste Preise sorgen dafür, dass niemand mehr baut, dadurch, dass es kaum mehr Neubau gibt, können auch Neuvermietungsmieten nicht steigen." Der Wohnungsbedarf bleibt dadurch genauso gedeckt, wie er bisher gedeckt war, ohne dass jemand Nachteile erleidet.
 

Deutschland bleibt Vorbild

 
Ähnliches schwebt ihm und seinen Kollegen nun als Lösung vor, um die Bundeswehr richtig kräftig aufzurüsten, ohne dabei über jede halbe Billion große Grundsatzdebatten führen zu müssen. "Deutschland muss Vorbild sein", sagt Haase. Nur so könne die Europäische Union mit ihrem immer noch nicht endgültig beschlossenen Plan zur Aufrüstung Europas bis zu einem unbezwingbaren "stählernen Stachelschwein" (Ursula von der Leyen) auf die Strümpfe kommen. "Trotz aller Zeitenwenden ist in Brüssel ja die Zaghaftigkeit Meister aller Klassen."
 
Haase kommt noch einmal auf die DDR zurück, deren Rüstungsausgaben die der heutigen Bundesrepublik erscheinen lassen wie ein Tröpfchen im Bodensee. "Sich aus Angst vor einer Zukunft mit schweren Schuldenlasten den Schneid abkaufen zu lassen, hilft doch nicht, wenn der Russe vor der Tür steht", zitiert er den CDU-Gesundheitsexperten Jens Spahn. Dann brauche es eine Bundeswehr wie früher, stark genug, um ein, zwei Wochen zu halten, bis Entsatz aus Amerika kommt. "Zum selben Zweck, nur andersherum, unterhielt die DDR ja ihre NVA." 

Es darf nur nichts zu kaufen geben

 
Inflationäre Effekte konnten die Wissenschaftler in der vermeintlichen Volksrepublik dennoch nicht entdecken. "Weil es nichts zu kaufen gab, wurde bis zum Ende der DDR auch kaum etwas ausgegeben." Daraus resultierte seinerzeit ein angenehmer Nebeneffekt: Obgleich Löhne und Gehälter in der DDR sehr viel niedriger waren als im Westen, hatten die Menschen dort fast ebenso viel gespart wie die Brüder und Schwestern im Rheinland oder in Bayern, als die DDR zusammenbrach. 
 
"Das waren durchaus libertäre Anstrengungen, die da unternommen wurden, um selbst fürs Alter vorzusorgen ", lobt er. I Handstreich sei es dann aber gelungen, einen großen Teil der angehäuften kleinen Vermögen mit Hilfe des Umtauschverhältnis von 2:1 zu verstaatlichen. "Und sehen Sie, Proteste gab es nicht, vielmehr waren die Menschen dankbar und sie haben das klaglos akzeptiert."  Ebenso hatten alle ein Einsehen, als die zahllosen Panzer und Kanonen, die sie mit ihrem Verzicht über Jahre finanziert hatten, eilig verschrottet oder in Krisengebiete in aller Welt verramscht wurden. "Niemand hat sich beschwert, als die unzähligen Liegenschaften dieser gewaltigen Streitmacht ebenso wie die riesigen Bereiche, in denen die Westgruppe geherrscht hatte, aufgeben wurden, damit sie verrotten können."
 

Notfalls enteignen

 
Eine Chance für das neue Deutschland. "Vieles steht heute noch leer und mit entsprechender finanzieller Ausstattung wäre es schnell mehr recht als schlecht wieder betriebsbereit zu machen." Manche frühere Militäranlage sei sogar schon von Investoren auf Vordermann gebracht worden. Herbert Haase denkt dabei beispielsweise an die gewaltigen Blocks in Prora an der Ostsee, in denen früher mehrere Militäreinheiten gehaust hatten. Geldanleger hatten das ehemalige "Kraft-durch-Freude"-Objekt erworben, saniert und es als Eigentumswohnungen vermarktet.
 
"Wir hätten da jetzt zwei Möglichkeiten", umreißt Haase, "entweder, die finanzielle Ausstattung reicht, um den derzeitigen Eigentümern ein Angebot zu machen, dass sie einfach nicht ausschlagen können." Oder man müsse alternativ prüfen, welche rechtlichen Möglichkeiten das Grundgesetz biete, um widerstrebende Eigentümer zum Wohle aller zu enteignen. "Natürlich gegen Entschädigung, die aber dann wohl deutlich geringer ausfallen wird als bei einem Rückerwerb der gesamten Liegenschaft durch den Bund."
 

Die Zeit ist reif

 
Dass die Zeit reif ist für eine entschlossene Entscheidung, die weit über "verschwiemelte Sondervermögen hinausgeht", wie er abfällig sagt, sieht Haase als gegeben an. Die zeitliche Lücke, dafür politische Mehrheiten zu finden, sei aber eben im Begriff sich zu schließen. "Wenn Amerikaner und die Russen erst vereinbart haben, unter welchen Bedingungen die Ukraine sich ergeben muss, wird es zu spät sein." Spätestens dann würden die Appeaser wieder aus ihren Lächern kriechen und behaupten, die Krise sei vorbei, der Russe werde nicht kommen iuhnd alles könne bleiben, wie es war.
 
Herbert Haase sieht das anders.  Ausdrücklich weist er auf die Gefährlichkeit des Gegners Russland hin, der sich offenbar "alle Zeit der Welt" nehme, seine Ziele zu erreichen. "Für für die 400 Kilometer von seiner Grenze bis an den Dnepr werde Putins Militärmaschine am Ende wohl um die vier Jahre gebraucht haben. 
 
"Das bedeutet, dass sie für die 4000 Kilometer bis zu den Pyrenäen 40 Jahre braucht, wobei wir angesichte der dann dreimal breiteren Front eher mit 120 rechnen sollten." Der dritte Weltkrieg könnte damit zum längsten Krieg der Menschheitsgeschichte werden, länger fast noch als der jahrhundertjährige Krieg von 1337 bis 1453. "Das klingt bedrohlich, gibt uns aber ausreichend Zeit, um Deutschland und Europa wirklich umfassend aufzurüsten."